Was bleibt, sind Angst und Trauer

Brand in Deir el-Balah
Abdel Kareem Hana/AP/dpa
Ein israelischer Angriff hat am 14.10.2024 in Deir el-Balah, in den palästinensischen Gebieten einen Brand im Zeltbereich im Hof des Al-Aqsa-Märtyrer-Krankenhauses ausgelöst.
Ein Jahr nach dem Hamas Überfall
Was bleibt, sind Angst und Trauer
Ein Jahr nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober scheint ein Ende des Krieges in Gaza immer noch nicht in Sicht zu sein. Im Gegenteil, denn die Eskalationen nehmen von Tag zu Tag zu, sowohl in Israel und den palästinensischen Gebieten, aber auch im Libanon. Hinzu kommt der iranische Angriff in der Woche vor dem Jahrestag, der für viel Aufsehen gesorgt hat. Ein Bericht von evangelisch.de Mitarbeiter Elias Feroz über die Widersprüchlichkeiten des Alltags vor Ort.

Für viele Menschen, die in Jerusalem leben, war der iranische Angriff ein Schreckenserlebnis, denn anders als etwa im Norden Israels gibt es in den alten Wohnhäusern Ostjerusalems keine Schutzräume für die Bevölkerung, insbesondere für den arabisch-palästinensischen Teil. Sie sahen die leuchtenden Geschosse im freien Himmel, ohne einen Zufluchtsort zu haben.

Raghad Canaan, die im Jerusalemer Stadtviertel Beit Hanina wohnt, erzählt von ihrem Schockerlebnis, als sie sah, wie sich die feuerroten Geschosse im Himmel bewegten: "Mein erster Gedanke war, dass die Raketen in den Iron Dome [Anmerkung der Red.: Israels Luftabwehrsystem] eindringen könnten. Doch dieser Gedanke verflog schnell, als ich an die Menschen in Gaza dachte, die tagtäglich mit viel schlimmeren Situationen konfrontiert sind und über kein Abwehrsystem verfügen, welches sie schützt." Für Raghad ist die gesamte Situation oft surreal. Die Leute in Israel und im Westjordanland sprechen oft über Gaza, als würde es sich um einen weit entfernten Ort handeln, sagt sie. Dabei sind es nur wenige Kilometer, die sie voneinander trennen. 

Der andauernde Krieg und die zunehmenden Eskalationen erschweren es, sich dem Alltag unbekümmert zu widmen. Zugleich wird das Thema auf vielen Ebenen aber auch totgeschwiegen. "Nur wenige Stunden nach dem iranischen Angriff war das Thema vom Tisch. In der WhatsApp-Gruppe der Studierenden an der Hebräischen Universität in Jerusalem diskutierte man darüber, ob die Bibliothek geöffnet hat, als gäbe es keine wichtigeren Themen", sagt die in Jerusalem lebende Asil (der Name wurde auf Wunsch der Interviewpartnerin geändert).

Während einige die vom Iran abgeschossenen Raketen wie ein Feuerwerk beobachteten, hatte der Vorfall für andere reale Auswirkungen. Die Studentin Buschra befand sich während des Angriffs in Chicago, um ihre Verwandten über den Sommer zu besuchen. Als sie zurückfliegen wollte, wurde jedoch ihr Flug gecancelt, wie bei vielen anderen, die ein Flugticket nach Tel Aviv buchten. Buschra war jedoch teilweise auch froh darüber, dass sie nicht während des Angriffs in ihrer Heimat war, weil der Lärm der Raketen ihr verständlicherweise Angst macht, auch wenn Israels Luftabwehrsystem zu den ausgeklügeltsten und effizientesten der Welt gehört. Am Sonntag, dem 6. Oktober, konnte sie endlich zurückfliegen, nachdem sie ihren Flug umbuchte. Aufgrund der andauernden Anspannung überlegt sie sich jedoch, ein Doktoratsstudium in den USA zu beginnen. Sie liebt zwar ihre Heimatstadt Jerusalem, aber die Unsicherheit hält sie auf Dauer nicht aus, berichtet sie evangelisch.de.

Auch für die in Nazareth lebende Nadine waren die letzten Wochen äußerst anstrengend. Nazareth ist zwar überwiegend von Palästinensern bewohnt, doch ist die Stadt Teil des israelischen Staatsgebiets. Neuere Gebäude Nazareths hätten zwar einen Schutzraum, aber dies sei eher die Ausnahme als die Regel, wie Nadine erklärt. "In den letzten Wochen rissen uns die Sirenengeräusche mehrmals Mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Wir rannten in den Schutzraum und mussten dort warten." Dies wirkt sich entsprechend auf die Stimmung aus.

Fröhlich sein trotz Krieg?

Nadine gehört der christlich-arabischen Minderheit Nazareths an und die Weihnachtszeit kommt immer näher. In Anbetracht der erdrückenden Lage kann sie sich jedoch nicht wie früher auf die bevorstehenden Vorbereitungen freuen, sagt sie: "Auch wenn es Momente gibt, in denen ich lachen kann und den Krieg kurz vergesse, bekomme ich daraufhin gleich Schuldgefühle. Es gibt Menschen, die durch den Krieg alles verloren haben. Darf ich unter diesen Umständen überhaupt fröhlich sein?"

Wendepunkt für Israelis und Palästinenser

Der 7. Oktober 2023 hat das Leben von Israelis und Palästinensern zweifelsohne hinreichend verändert. Die Hebräische Universität warnte die Studierenden per E-Mail am Jahrestag davor, überfüllte Orte zu meiden. Einige israelische Geschäfte und Unternehmen hatten ihre Öffnungszeiten entsprechend angepasst. Die Anspannung ist stets spürbar und der Tag ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschen nicht mehr wegzudenken.

Im vergangenen Jahr wurde Weihnachten in Bethlehem aus Respekt gegenüber den Opfern des Krieges nicht gefeiert. "Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch dieses Weihnachten in der Geburtsstadt Jesus ausfällt", sagt der aus Gaza stammende christliche Theologe Dr. Yousef Al Khouri, der Assistenzprofessor für biblische Studien am "Bethlehem Bible College" ist. Für ihn war dies ein besonders schwieriges Jahr, denn seine Familie lebt in Gaza.

Das Gebäude, in welchem seine Familie in Gaza-Stadt lebte, wurde zu Beginn des Krieges durch einen israelischen Luftangriff schwer beschädigt, weshalb sie fliehen musste. Al Khouri stört es, dass der andauernde Krieg oftmals als eine Art religiöser Konflikt wahrgenommen wird, obgleich er auch zustimmt, dass religiöse Texte für Gewalt instrumentalisiert werden können: "In allen Religionen gibt es Texte, die dazu verwendet werden können, andere auszuschließen. Es ist wichtig, Lesarten hervorzuheben, die Inklusivität fördern. Daher sollten Religionen zu einem konstruktiven Dialog beitragen, der Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung fördert." Während er dies sagt, wirkt sein Blick müde und besorgt. Wahrscheinlich, weil für seine Familie der Horror des Krieges immer noch weitergeht.