Der Würzburger spricht mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) über die Gefahr, die von der AfD ausgeht, die Verantwortung der Mitte-Parteien und der gesamten Gesellschaft sowie über sein neues Buch "Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesem Land".
epd: Herr Schuster. Kurz nach der bayerischen Landtagswahl 2023 haben Sie gesagt: "Ich hoffe, dass die von der Union viel zitierte Brandmauer gegen die AfD hält." Wie groß ist Ihre Hoffnung jetzt nach der Bundestagswahl?
Schuster: Meine Hoffnung, ich würde sogar sagen Zuversicht bei diesem Thema hat sich nicht verändert. Ich bin zwar nicht glücklich über das, was geschehen ist, aber ich gehöre nicht zu denen, die in den Geschehnissen im Deutschen Bundestag vor einigen Wochen einen Bruch der Brandmauer gegen die Rechtsextremen sehen.
Mit Blick auf das aktuelle Wahlergebnis: Wie zuversichtlich sind Sie, dass die demokratischen Parteien für die kommenden vier Jahre eine stabile Koalition und Regierung hinbekommen?
Schuster: Wir haben ja vor wenigen Wochen in Österreich gesehen, was passiert, wenn die demokratischen Parteien nicht zu Kompromissen bereit sind - plötzlich sitzen dann die Populisten und Extremisten mit am Verhandlungstisch. Wir sind davon in Deutschland noch entfernt. Das vorläufige Wahlergebnis gibt den Parteien der politischen Mitte die Möglichkeit, eine Regierung zu bilden. Sie stehen nun in der Verantwortung. Sie müssen dabei nicht nur handlungsfähig und bereit zu Reformen sein, sondern die Menschen von ihrer Politik überzeugen.
Nun ist die AfD zweitstärkste Kraft im Deutschen Bundestag geworden - eine in Teilen rechtsextremistische Partei. Einige politische Beobachter sagen, die AfD könnte 2029 stärkste Kraft werden...
Schuster: Soweit darf es nicht kommen. Die nun anstehende Legislaturperiode hat eine Schlüsselrolle für die Zukunft unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Deutschland. Die Parteien der Mitte müssen nun endlich die drei drängendsten Probleme angehen: Das sind die Migration, die schwächelnde Wirtschaft sowie die Herausforderungen im Sozialbereich. Gelingt das nicht, habe ich die große Sorge, dass das der AfD einen weiteren Auftrieb geben würde.
"Die Parteien müssen nun endlich die drei drängendsten Probleme angehen: Das sind die Migration, die schwächelnde Wirtschaft sowie die Herausforderungen im Sozialbereich"
Im April erscheint Ihr Buch "Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesem Land" mit Reden, Texten und Interviews, die Sie seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 gehalten, geschrieben und gegeben haben. Was ist denn, kurz gefasst, aus den Fugen geraten?
Schuster: Das politische Klima insgesamt ist aus den Fugen geraten. Der Rahmen des Buches ist nicht zufällig gesetzt. Er reicht von dem unfassbaren Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 bis zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Nur wenn wir die Phänomene des israelbezogenen Judenhasses sowie der Relativierung und Verunglimpfung der Schoa und den Aufstieg der AfD gemeinsam betrachten, können wir die aktuellen Entwicklungen fassen. Ein weiterer Punkt ist der immer salonfähigere Antisemitismus und Rassismus in allen Bereichen.
Sie haben immer davor gewarnt, den Antisemitismus nur als Problem von rechts außen zu betrachten. Haben die Parteien der Mitte auch hier zu lange die Augen verschlossen?
Schuster: Man kann nicht immer für alles die Verantwortung nur auf die Politik schieben. Ich finde, unsere gesamte Gesellschaft hat in diesem Punkt versagt. Über Jahre hinweg hat eine breite Mehrheit der Gesellschaft geschwiegen, wenn die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschoben wurden - ins Rechtsradikale, aber auch, wenn es um Israelfeindlichkeit und islamischen Judenhass geht. Jetzt haben wir einen Normalisierungseffekt. Der Hass, die Hetze, der Antisemitismus hat sich von weit rechts und weit links außen in die Mitte hineingegraben.
"Der Hass, die Hetze, der Antisemitismus hat sich von weit rechts und weit links außen in die Mitte hineingegraben"
Sie haben im Prinzip seit 2015 regelmäßig auch vor den Problemen des importierten Antisemitismus aus den muslimisch geprägten Ländern gewarnt - inwieweit wurde das aufgegriffen?
Schuster: Während der ersten großen Fluchtbewegungen 2015 und 2016 hatte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mehrmals zu sogenannten Migrationsrunden eingeladen, an denen verschiedene gesellschaftlich relevante Gruppen teilgenommen haben. Als ich in einer dieser Sitzungen genau dieses Thema angesprochen habe, gab es ein sehr betretenes Schweigen. Ich habe mich nie gegen Zuwanderung ausgesprochen, aber vor den Gefahren eines Kontrollverlustes gewarnt.
Hass von egal welcher Seite sollte man nie gegeneinander aufwiegen - es stellt sich aber trotzdem die Frage, welche antisemitischen Tendenzen aus welcher Richtung ihnen am meisten Sorgen bereiten...
Schuster: Mich besorgt vor allem die Gesamtgemengelage. Und natürlich finde ich es bestürzend, dass neben dem seit Jahrzehnten unverhohlenen Antisemitismus von Rechtsextremen auch der Judenhass von linksextremer und islamistischer Seite ungeniert und lautstark geäußert wird. Diese Wahl hat noch einmal gezeigt, dass auf politischer Ebene der Rechtsextremismus und damit auch der von ihm gefärbte Antisemitismus die präsenteste Herausforderung ist, die uns auch weiter begleiten wird. Gleichzeitig kommt das Land nicht zur Ruhe. Erst vor wenigen Tagen hat Berlin ein antisemitisches Attentat eines jungen Syrers erschüttert. Dieser aggressive Antisemitismus in unserem Land ist eine große Bedrohung für jüdisches Leben.
Anlass für Ihr Buch ist der Hamas-Überfall, der nahezu weltweit Bestürzung ausgelöst hat. Seither steht aber auch die israelische Regierung immer stärker in der Kritik. Wie bewerten Sie die aktuelle Politik dort?
Schuster: Aus 3.500 Kilometer Entfernung lässt sich immer leicht moralisch urteilen. Richtig ist, dass auch in Israel die Politik von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kritisiert wird. Ich kann auch nicht alle Entscheidungen der vergangenen Monate nachvollziehen. Ich bin aber der Meinung, dass die israelische Regierung ernsthaft versucht hat, die Geiseln auf diplomatischem Wege zu befreien - allerdings kann ich für diese Einschätzung auch nur die öffentlich bekannten Informationen heranziehen.
Wie kann denn angesichts der Gräuel vom 7. Oktober 2023 überhaupt eine legitime Kritik am Handeln der israelischen Regierung aus Ihrer Sicht aussehen?
Schuster: Jede Regierung kann kritisiert werden. Kritik ist nicht mehr akzeptabel, wenn man Israel delegitimiert, also das Existenzrecht infrage stellt, wenn man Israel dämonisiert und wenn man an den Staat und seine Regierung Doppelstandards anlegt - also Standards, die man bei anderen Nationen nicht anlegen würde. Wer diese "drei D's" beherzigt, kann die Regierung Netanjahu dann genauso kritisieren wie die Regierungen Scholz oder Trump.
Sie gelten nicht als Schwarzmaler - aber ihre Mahnungen sind in den vergangenen Jahren düsterer geworden. Wie lange wollen Sie als Zentralrats-Präsident noch der "Mahner der Nation" sein?
Schuster: Ich täte viel lieber etwas anderes in meinem Amt. Aber die Situation ist nun einmal so, wie sie ist. Es wäre jetzt sicher auch nicht der richtige Weg, zu resignieren und nichts mehr zu sagen. Aber klar ist auch: Ich hätte mir bei meinem Amtsantritt im Jahr 2014 in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, dass eine in Teilen als gesichert rechtsextrem geltende Partei in Deutschland einen derart großen Zulauf bekommt.
Sie haben gesagt, wenn die AfD auf Bundesebene in politische Verantwortung käme, stellte dies jüdisches Leben in Deutschland generell wieder infrage. Was wäre denn für die hier lebenden Juden die Alternative?
Schuster: Leider ist es ja so, dass Antisemitismus ein weltweites Phänomen ist. Ist die Lage derzeit in den USA, in Kanada oder in der Schweiz besser als in Deutschland? Ich würde sagen: eher nicht. Insofern wäre momentan wohl Israel - trotz der Bedrohung durch den palästinensischen Terror und einiger arabische Staaten ringsherum - der einzig halbwegs sichere Hafen für Jüdinnen und Juden, wenn sie ihr Heimatland verlassen müssten.