TV-Tipp: "Alle nicht ganz dicht"

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26. September, ZDF, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Alle nicht ganz dicht"
Jüngere Generationen glauben vermutlich, Amazon hätt’s erfunden, aber tatsächlich gibt es den Versandhandel bereits seit 150 Jahren.

Die Idee, auch Menschen in der Provinz mit Mode und den Errungenschaften des modernen Lebens zu versorgen, war ebenso einfach wie genial und machte die Familien, die sich hierzulande hinter Markennamen wie Neckermann, Quelle und Otto verbargen, reich und berühmt; bis die Digitalisierung und Amazon das Oligopol brutal beendeten. Darum geht es in der Komödie "Alle nicht ganz dicht" zwar nur im Hintergrund, aber die von Ulrike Kriener gleichermaßen unverwechselbar wie unverwüstlich verkörperte Hauptfigur der Geschichte steht noch mit beiden Beinen in der guten alten Zeit, als das Hamburger Versandhaus Sander seine Kataloge verschickte; gleich drei mal zierte "Claudia" das Titelblatt, wie sich der Seniorchef (Michael Prelle) wehmütig erinnert. Die Wälzer verströmten nicht nur ein gewisses Flair, sondern auch einen speziellen Duft.

Tempi passati, und das gilt auch für Barbara Lucke: Dreißig Jahre lang war die einstige Sekretärin für den Betriebsrat freigestellt. Als die "rote Barbara", die Rente bereits in Sichtweite, nicht wiedergewählt wird, muss sie wohl oder über in den Arbeitsalltag zurückkehren; und das auch noch in der Abteilung Wäsche/Bade, die von ihrem Sohn Bastian (Tim Oliver Schultz) geleitet wird.

Was nun folgt, ist eine flott erzählte Mischung aus Mutter/Sohn-Drama, Satire auf das moderne Wirtschaftswesen und romantischer Komödie. Barbara, einst eine Virtuosin auf der Kugelkopfschreibmaschine, gewöhnt sich nur mühsam an die Bedingungen, für die das neue Firmenlogo "SNDR" steht. Verbittert muss sie einsehen, dass ihre Talente buchstäblich aus dem letzten Jahrhundert stammen. Dass sie Steno kann, interessiert niemanden mehr; "MML", Mitarbeiter mit Lebenserfahrung, entpuppt sich als Euphemismus für Altersdiskriminierung. Außerdem versteht sie bloß Bahnhof, weil sich Bastian und sein selbstredend woke-korrekt als Kolleg:innen bezeichnetes Team in diesem typischen Wirtschaftskauderwelsch verständigen, das mehr nach Englisch als nach Deutsch klingt. "Change Management" oder "Performance Index":  Das ist ebenso wenig Barbaras Welt wie LGBTQ. Zu allem Überfluss kommt es zu einem Kleinkrieg ums "Sharedesk", denn Yasemin (Sevda Polat), Bastians rechte Hand, wittert in seiner Mutter, die ihn allein großgezogen hat, instinktiv eine Konkurrentin, wenn auch nicht mit Blick auf die Karriere: Es nicht zu übersehen, wie sehr es zwischen ihr und Bastian knistert, doch in dessen Leben gibt nach wie vor Barbara den Ton an; "Alle nicht ganz dicht" erzählt auch davon, wie sich die "Millennials" von der "Boomer"-Generation abnabeln. 

Schon allein der Mikrokosmos, den Andreas Altenburg mit seinem Drehbuch entworfen hat, ist ein steter Quell großer Freunde, weil der Autor sein Kernensemble mit einer Vielzahl liebevoll entworfener und nur ein kleines bisschen überzeichneter Figuren umgibt, die zudem allen voran von Oliver Wnuk vortrefflich verkörpert werden: Der Juniorchef, auch nicht mehr ganz jung, ist ein Schnösel, der den modernistischen BWL-Jargon selbst nicht so ganz durchblickt, Compliance-Regeln für ein lästiges Übel hält und radikale Kürzungen beim Personal vornehmen will. Ganz oben auf der Abschussliste steht ausgerechnet Wäsche/Bade. Selbst der firmeninterne Ideenwettbewerb, den Sander junior ausgerufen hat, ist bloß Augenwischerei für die Belegschaft; dabei ist Bastian gerade dabei, eine App zu entwickeln, die perfekt in die Selfie-Zeit passt. Davon abgesehen wären sämtliche Beteiligten froh, wenn Barbara kündigen und in den Vorruhestand gehen würde, doch die entdeckt ihren alten Kampfgeist und entwirft gemeinsam mit anderen Altvorderen einen Plan, der so retro ist, dass er fast schon wieder revolutionär wirkt. 

Die Dialoge machen mindestens so viel Spaß wie die vielen originellen Bucheinfälle, zumal Grimme-Preisträger Lars Jessen ("Für immer Sommer 90", 2021), der den Film auch produziert hat, das perfekte Ensemble für Altenburgs Vorlage zusammenstellen konnte. Die beiden haben sich schon bei "Jennifer – Sehnsucht nach was Besseres" (Deutscher Comedypreis 2018 als Beste Sitcom) als kongeniales Duo erwiesen; mit Kriener hat Jessen bereits bei der schönen Kuppelkomödie "Butter bei die Fische" (2009) zusammengearbeitet. Die Mitwirkenden sind ausnahmslos sehenswert, aber Sevda Polat macht aus ihrer führenden Nebenfigur schon allein dank der Lizenz, mit ihren Blicken töten zu dürfen, eine Hauptrolle. Abgerundet wird der Film durch die muntere Musik von Anna Katharina Bauer.