Wenn Missbrauchstäter keine Schuld verspüren

Portait einer Frau im bunten Kleid vor einer grauen Wand.
EAzB/Karin Baumann
"Ich sehe das Problem eigentlich eher darin, dass in der evangelischen Kirche überhaupt nicht über sexuellen Missbrauch gesprochen wurde.", sagt Theologin Katharina von Kellenbach von der Evangelischen Akademie zu Berlin.
Schuldvergebung?
Wenn Missbrauchstäter keine Schuld verspüren
Die Theologin Katharina von Kellenbach übt Kritik an der Praxis der Schuldvergebung in der evangelischen Kirche im Zusammenhang der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Im Gespräch mit evangelisch.de verweist die Wissenschaftlerin, auf problematische Vorstellungen von Schuld und Vergebung, die dazu führten, dass Täter sich nicht schuldig fühlten, während ihre Opfer langjähriger Therapien bedurften. 

Im Gespräch mit evangelisch.de findet die Theologin Katharina von Kellenbach deutliche Worte, warum Täterschutz in der evangelischen Kirche oft vor Betroffenenschutz ging. Die emeritierte Professorin für Religionswissenschaft am US-College St. Mary’s in Maryland und Projektleiterin an der evangelische Akademie zu Berlin verweist darauf, dass im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt auch auf die theologische Basis geschaut werden müsse. Denn problematische Vorstellungen von Schuld und Vergebung führten offenbar dazu, dass Täter:innen sich nicht schuldig fühlten, während ihre Opfer langjähriger Therapien bedurften. 

evangelisch.de: Wurde in der evangelischen Kirche zu schnell von Vergebung gesprochen im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal und sexualisierter Gewalt?

Katharina von Kellenbach: Ich sehe das Problem eigentlich eher darin, dass in der evangelischen Kirche überhaupt nicht über sexuellen Missbrauch gesprochen wurde. Das war ja eher ein katholisches Problem, von wegen Zölibat und hierarchische Priesterschaft, usw. Und dieses Stillschweigen platzte dann die Forumstudie. Und schon in der Forumstudie wird deutlich, dass die christliche Pflicht zur Vergebung problematisch ist, und auch von Missbrauchstätern eingesetzt wurde, um sicher zu stellen, dass das Thema so schnell wie möglich vom Tisch kommt.  

Können Sie das an einem Beispiel konkret machen? 

von Kellenbach: Das wird ja auch in den Berichten geschildert, die in der Forum Studie gesammelt wurden. Den Betroffenen, die Anklage erheben, wurde von Tätern oder Kirchenleitenden nahegelegt, sie sollten sich auf die christliche Vergebung besinnen. Dabei geht es dann aber eben vornehmlich darum, die Diskussion schnell zu beenden, um einen "größeren Schaden" am guten Namen des Täters oder am guten Rufe der Kirche abzuwenden. Dann wird Vergebung gleichbedeutend damit, dass man die Opfer und Betroffenen schnell wieder zum Schweigen bringt und einen Frieden bewahren möchte, der den Missbrauch unter den Teppich kehrt. 

Wie sehen das Betroffene? 

von Kellenbach: Vergebung ist das Allerletzte, woran Opfer und Betroffene denken. Denn in den meisten Fällen haben die Täter jahrzehntelang gut gelebt, waren beliebt und anerkannt. Die Täter wollten sich an keine Untat erinnern, und sie wurden auch nicht zur Rechenschaft gezogen. Es ging und geht ihnen gut! Es sind doch die Opfer, die unter der Erinnerung leiden und sich mit Schuld- und Schamgefühlen herumplagen. Ihr Leben wurde zerstört, sie wurden ihrer Zukunft, ihrer Menschenwürde, ihres Berufes, ihres Glaubens, und ihres Vertrauens in die Menschen und in die Kirche beraubt. Was soll denn hier Vergebung bedeuten, wenn die Täter sich nicht schuldig fühlen, und die Opfer keine Rechtfertigung und Entschädigung erfahren? 

Was bedeutet die Schuld aus Sicht der Täter? Wie kommt es zu diesem Blick auf die Schuld bei den Tätern?

von Kellenbach: Für Täter ist Schuld schmerzlos, das ist zwar eine steile These, aber empirisch gut belegt: Denn es ist befriedigend, Macht über andere Menschen zu haben, sie zu erniedrigen, zu quälen, und sexuell gefügig zu machen. Das würde ja sonst nicht passieren. Die Erniedrigung des Opfers bereitet dem Täter Lust. Er fühlt sich gut und mächtig. Was soll daran schmerzhaft sein? 

"Für Täter ist Schuld schmerzlos, das ist zwar eine steile These, aber empirisch gut belegt."

Sexueller Missbrauch wird für Täter erst schmerzhaft, wenn sie gezwungen werden, sich in die Perspektive der Opfer zu versetzten, wenn sie die Langzeitfolgen ihres Handelns im Leben der Opfer erkennen müssen. Erst Empathie und Ebenbürtigkeit löst Reue aus. Reue ist schmerzhaft, und dieser Schmerz ist heilsam. Ohne diesen Schmerz gibt es keine Veränderung! 

Wo harkt es bei der evangelischen Sühnepraxis des Sünders mit Blick auf sexualisierte Gewalt in der Kirche?

von Kellenbach: Als evangelische Kirche haben wir die rituelle Sprache der Buße und Reue verlernt. Das hat mit der Reformation zu tun und dem Ablasshandel, gegen den Martin Luther bekanntlich gewettert hat. Er hat richtigerweise erkannt, dass niemand nachweisen kann, ob er aufrichtig bereut. Deshalb, so Luther, darf die Reue nicht zur Vorbedingung der Gnade Gottes und der Rechtfertigung der Sünder gemacht werden. Die Gnade der Versöhnung ist ein bedingungsloses Geschenk, das ist das theologische Herzstück der Reformation. 

"Wir brauchen eine nachhaltige Schuldbearbeitungspraxis"

Aber damit haben wir auch gute Instrumente christlicher Bußpraxis verloren: den rituellen Dreischritt aus Reue (contrito), Beichte (confessio) und Wiedergutmachungen (satisfactio). Natürlich können wir das röm.-katholische Bußsakrament nicht mehr einführen (bekanntlich funktioniert das ja bei unserem katholischen Kirchengeschwistern auch nicht mehr)! Aber wir brauchen eine nachhaltige Schuldbearbeitungspraxis, sollten kreativ werden und Rituale entwickeln und liturgisch begleiten, damit wir mehr zu bieten haben als die Verkündigung der Gnade bedingungsloser Versöhnung.

Was übersieht die Versöhnungslehre?

von Kellenbach: Moment. Ich sehe noch eine zweite theologische Schwachstelle in der evangelischen Versöhnungslehre, die besonders im Gespräch mit der jüdischen Tradition und unseren jüdischen Wurzeln deutlich wird: die klare Unterscheidung zwischen der Vergebung, die von Gott gewährt wird, und der Vergebung unter dem Menschen. Noch in der Bergpredigt bei Matthäus heißt es: "Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhn dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe" (Mt 5,23-24). In der jüdischen Tradition, die hier nachklingt, wird unterschieden zwischen Vergehen gegenüber Gott und Ausschreitungen gegenüber den Nächsten. Gott vergibt niemals an Stelle des geschädigten Nächsten. Es gibt hier keine Stellvertretung. 

Was bedeutet das  - ein Beispiel?

von Kellenbach: Man stelle sich also vor, ein Missbrauchstäter ginge zum Pfarrer, um zu beichten und sich vergeben zu lassen, und er würde hören: "Bevor ich dich im Namen Christi von der Sünde losspreche, gehe erst zu XY, die du verletzt hast, und bitte sie um Verzeihung. Dann komme wieder und wir feiern zusammen, dass du ein anderer Mensch werden darfst." Natürlich muss das geschädigte Opfer diese Vergebung nicht gewähren. Aber allein das Risiko der Zurückweisung, die Angst und das Gefühl der Verletzlichkeit, die einer Bitte um Vergebung innewohnt, verändert schon das Machtverhältnis zwischen Täter und Opfer. Mit der Aufforderung, zur Geschädigten zu gehen, wird dem Opfer eine Rolle zugestanden, die signalisiert, dass es nicht einfach (wieder) übersehen und übergangen werden kann wie doch schon vorher im Missbrauchsgeschehen. 

Hat denn die Institution eine Mitschuld?

von Kellenbach: Und damit kommen wir zur Mitschuld der Institution. Wo Unrecht geschieht, wird es zur Pflicht der Gemeinschaft, Recht zu sprechen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, und die Opfer zu entschädigen. Wenn das nicht passiert, so steht es in der Bibel, wird das ganze Land verunreinigt (5. Moses 21). Unrecht kontaminiert und verbreitet sich durch die ganze Gesellschaft. Dieser Kontaminationsgedanke, oder die Kontaktschuld, führt dazu, dass die gesamte Kirche unter Verdacht gerät, obwohl es doch nur wenige sind, die tatsächlich schuldhaft handeln.

"Wir stehen als Kollektiv dafür ein, wie wir auf individuelles schuldhaftes Handeln reagieren."

Wer von Unrecht hört, und nichts tut, wer zusieht, und nicht einschreitet, wer versäumt, die Schwachen zu schützen, oder verhindert, dass Übeltäter zur Verantwortung gezogen werden—macht sich der Unterlassung schuldig. Wir stehen als Kollektiv dafür ein, wie wir auf individuelles schuldhaftes Handeln reagieren. 
  
Braucht es neue Bilder über Schuld? 

von Kellenbach: Ja! Ich spreche in Bildern von Kompost und Kläranlagen. Weil die Sprache der Schuld und Vergebung immer auch ein Reinigungsgeschehen suggeriert: Bilder von weißen Westen und schmutzigen Hände, von Schandmalen und Nestbeschmutzern. Statt von Vergebung als Beseitigung eines Makels oder Bereinigung einer Vergangenheit zu sprechen, ist es besser sich die Versöhnung als Fermentierung giftigen Restmülls vorzustellen. Schuld (und Giftmüll) verschwinden nicht wie von Zauberhand, sie lösen sich nicht in Luft auf und verschwinden nicht aus der Welt. Schuld muss behandelt, abgetragen, dekontaminiert werden. Jeder Neuanfang beginnt auf dem Boden des Vergangenen. Schuld ist Rohmaterial und Ressource der Erneuerung. 

Was wünschen Sie sich von der Kirche für die Zukunft?

von Kellenbach: Ich wünsche mir eine Kirche, in der Räume geschaffen werden, wo offen über Sexualität und Machtmissbrauch gesprochen werden kann, in der Männer, Frauen und Kinder ihre Erfahrungen mit Manipulation und sexueller Gewalt erzählen können, in der Wut und Trauer zugelassen werden. Eine Art Wiederbelebung der Beichte als liturgischer Raum für Wahrheitssuche. 

Und auch der dritte Schritt des Bußsakraments, die satisfactio müsste neu inhaltlich gefüllt werden. Damit wir ernst nehmen, dass Opfer ein Recht auf Kompensation haben, dass der Schaden, den sie erlitten haben, entschädigt werden muss. Für dieses Recht stehen wir als Gemeinschaft ein. Und doch geht es bei der satisfactio um viel mehr als die Frage, wer wieviel Geld bekommt, oder wer dafür bezahlen muss. Es geht um therapeutische Räume der Heilung und um dialogische Foren der Bildung, um systemische Veränderungen der Machtstrukturen. Grundsätzlich also um die Frage: was muss denn getan werden, damit so etwas nicht immer wieder passiert?

Und erst dann, wenn wir uns wirklich mit der Schuld auseinandersetzt haben, dann kommt vielleicht so etwas wie Versöhnung auf, was dann allerdings nichts mehr mit einem "Wegwischen" oder "unter den Teppich kehren" zu tun hat.