"Als Kirche stehen wir mit beiden Beinen im Leben"

Pfarrer Kilian Dörr im Garten
Detlef Schneider
Den Pfarrgarten der Hermannstädter Stadtpfarrkirche hat Pfarrer Kilian Dörr in Permakultur angelegt.
Pfarrer Dörr in Hermannstadt
"Als Kirche stehen wir mit beiden Beinen im Leben"
Nach einer Massenauswanderung ihrer Mitglieder ist das Leben in der Evangelischen Kirche in Rumänien dennoch weitergegangen. Ein vielfältiges, kulturelles Angebot prägt heute die Hermannstädter Gemeinde, erzählt Pfarrer Kilian Dörr – auch zum großen Sachsentreffen an diesem Wochenende.

evangelisch.de: Herr Dörr, 90 Prozent der evangelischen Gemeindemitglieder haben Rumänien seit den 1970er Jahren verlassen, der Großteil Anfang der 1990er. Wer ist heute Mitglied in ihrer Gemeinde? 

Kilian Dörr: Zu den Gemeindemitgliedern gehören Menschen, die nicht ausgewandert sind. Zugleich gibt es Rückkehrer und "Sommersachsen", also Siebenbürger, die ihr Haus hier nicht verkauft haben und regelmäßig in Rumänien zu Besuch sind. Zur Gemeinde gehören außerdem Menschen, die auf Zeit hier leben, etwa der Arbeit wegen oder die hier eine neue Heimat gefunden haben. 750 Mitglieder hat die Gemeinde heute.

Anders als die meisten anderen Deutschen sind Sie nach dem Sturz der Ceaușescu-Diktatur Ende 1989 in Rumänien geblieben, Sie waren damals 23 Jahre alt. Wie muss ich mir die Situation damals vorstellen?  

Dörr: Ich war Theologiestudent, unser Wohnheim befand sich im heutigen Bischofspalais am Großen Ring, dem Hauptplatz in Hermannstadt. Dort versammelten sich die Bürger, als die Unruhen in Temesvar und Bukarest losgingen. Arbeiter aus den Fabriken stießen dazu, wir erlebten das aus nächster Nähe. Als die Miliz sie von dem Platz vertreiben wollte und mit zwei Autos in die Menge fuhr, zündeten die Versammelten die Autos kurzerhand an. Sie tanzten eine Horă, einen rumänischen Freiheitstanz, um diese brennenden "Fackeln", das war sehr beeindruckend. Dann räumte das Militär den Platz, es herrschten in der Stadt mehrere Tage kriegsähnliche Zustände. Polizei und Militär haben aus Hubschraubern und von den Dächern geschossen, allein in Hermannstadt sind damals etwa 100 Menschen gestorben.

Das Ganze fand ein Ende, als Nicolae Ceaușescu und seine Frau am 22. Dezember 1989 versuchten, mit einem Hubschrauber aus Bukarest zu fliehen, drei Tage später wurden beide von einem Militärgericht zum Tode verurteilt. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Dörr: Ich hatte einen großen Lautsprecher in das Fenster des Studentenwohnheims zum Großen Ring hin gestellt, von dem aus man Radio România hören konnte. Als die Nachricht von der Flucht der Ceaușescus kam, hörten die Leute auf zu schießen, kamen aus den Hauseingängen und umarmten sich. Das war eine echte Sternstunde und ein ungeheures Befreiungserlebnis. Wir dachten damals, dass wir jetzt hier im Land etwas Neues aufbauen können.

So haben nicht alle gedacht. Die meisten Kirchenmitglieder sind in den Westen ausgewandert.

Dörr: Ja, die meisten Siebenbürger Sachsen dachten anders. Sehr viele hatten über zehn Jahre auf den beantragten Reisepass gewartet und saßen auf gepackten Koffern. Als dann die Möglichkeit zur Ausreise bestand, haben sie diese auch genutzt, haben sich in den Zug oder ins Auto gesetzt und sind Richtung Westen losgefahren. Man wusste auch nicht, wie die Situation in zwei Monaten sein wird. Wie Gorbatschow reagiert und ob Russland Rumänien blockieren wird. 

Und Sie selbst haben nie mit dem Gedanken gespielt, auszuwandern? 

Dörr: Meine Frau und ich kannten uns schon und haben uns zusammen dafür entschieden, zu bleiben, zunächst für fünf Jahre. Durch ein Stipendium vom Lutherischen Weltbund habe ich nach der Wende in Berlin und Jena studiert und meine Frau in Potsdam, aber immer mit dem Ziel, wieder zurückzukommen. Als ich mit dem Studium fertig war, hat mich die Kirchenleitung in den Mediascher Kirchenbezirk ins Vikariat geschickt. Dort wanderten alle der verbliebenen Pfarrer aus, inklusive meines Lehrpfarrers. Einen Sommer lang war ich als Vikar allein im Dienst im Kirchenbezirk, zu dem 45 Gemeinden gehörten. Gelegentlich haben wir auch anderen Pfarrern bei der Auswanderung geholfen, ihre Sachen zu packen und ihre Möbel zu transportieren. Auf einmal waren die fünf Jahre um, was meine Frau und ich zunächst gar nicht merkten. Es gab hier so viel zu tun, dadurch war die Entscheidung schon gefallen.

1999 sind Sie nach Hermannstadt an die Stadtpfarrkirche gekommen. Welche Situation haben Sie hier vorgefunden?

Dörr: Die Situation in den 1990er Jahren war nicht einfach, auch hier dachten die Menschen, dass alles zu Ende geht. Die Kirche hatte starre Strukturen, die Einkommen waren niedrig, vor allem aber haben viele darüber geklagt, dass die Kirche kaum nutzbar ist. Sie war dunkel und kalt, es gab Probleme mit der Statik, der Organistin fiel immer mehr Mörtel aus den Rissen des Gewölbes auf die Klaviatur, ein Zeichen, dass sich dort etwas bewegte. Zudem wurde der Chor beim Singen immer müde, weil sich die Kirche kaum lüften ließ.

"Wir wollten aus der Kirche kein Museum machen, sondern einen Ort für das Gemeindeleben"

Was haben Sie dann gemacht?

Dörr: Über 15 Jahre lang haben wir die Kirche in mehreren Etappen renoviert. Wir haben Stützgerüste gebaut, das Dach neu gemacht und eine Wärmedämmung eingebaut, knapp die Hälfte der Kirchenbänke entfernt und die Gänge verbreitert, Toiletten eingebaut und Räume für den Chor geschaffen. Wir wollten aus der Kirche kein Museum machen, sondern einen Ort für das Gemeindeleben. Auch während der Jahre der Renovierung gab es deutliche Meinungsverschiedenheiten über Konzept und Durchführung und auch darüber, wofür wir das Ganze überhaupt machen. Aber als die Renovierung abgeschlossen war, begann in der Gemeinde, die sich so oft beschwert hatte, der Stolz auf ihr Gotteshaus zu wachsen. 

So eine Renovierung ist nicht billig. Wie haben Sie das Ganze finanziert? 

Dörr: Stemmen konnten wir das Ganze durch ein intensives Fundraising. Viele Spendengelder kamen aus Deutschland, oft von Siebenbürgern, nachdem das ZDF 2007 einen Fernsehgottesdienst aus der Stadtpfarrkirche übertragen hat. Außerdem haben wir uns bei der EU um Mittel im Rahmen einer Tourismusförderung beworben und eigenes Geld zusammengetragen, etwa durch Benefizkonzerte. Ein großer Teil kam auch von einem wohlhabenden Großspender aus dem Westerwald, der uns mit über einer Million Euro unterstützt hat. 

Eine Kirchensteuer wie in Deutschland gibt es in Rumänien nicht. Wie finanzieren Sie ihre kirchliche Arbeit?

Dörr: Etwa die Hälfte unserer Mittel stammt aus Mieteinnahmen. Nach der Wende haben wir begonnen, ehemalige Stiftungshäuser, Schulen und weitere Gebäude, die der Kirche gehörten, vom Staat zurückzufordern, die in der Zeit des Kommunismus enteignet wurden. Einen Teil dieser Immobilien haben wir zurückbekommen – durch die Bank völlig heruntergewirtschaftet. Diese Gebäude renovieren wir, Bau- und Verwaltungsarbeiten sind recht aufwendig und gehören zu unserem täglich Brot. Die andere Hälfte kommt von Spenden, befristeten Projekten, Gästebetrieb, dem Eintritt zu Konzerten und von touristischen Gruppen. Auch der Staat trägt zu etwa einem Drittel zu den Gehältern einiger Mitarbeiter bei.

"Ein wichtiges Thema unserer Kirchengemeinde ist die Bewahrung der Schöpfung"

Das heißt, sie verkaufen keine Gebäude, wie es in Deutschland der Fall ist, sondern setzen sie instand?

Dörr: Nur einmal haben wir ein Appartement verkauft, weil es zu baufällig war, von dem Geld haben wir sofort ein anderes Gebäude hier neben der Kirche gekauft. Darin befindet sich jetzt eine Herberge für Wandergesellen, übrigens die Einzige außerhalb Deutschlands. Das ist ein Projekt, das mir besonders am Herzen liegt, denn diese Gesellen sind motiviert und können mit alten Baumaterialien und Bautechniken gut umgehen. An sie vergeben wir Aufträge, etwa alte Dachstühle zu reparieren. Zugleich ist das ein Projekt der Völkerverständigung, weil sich hier Gesellen aus Deutschland, Frankreich, Österreich, Norwegen und der Schweiz treffen. Die haben hier jetzt auch einen Verein gegründet. Wir brauchen diese jungen Leute auch, denn unsere eigenen Handwerker arbeiten inzwischen fast alle in Westeuropa. 

Welche Angebote prägen ihre kirchliche Arbeit in Hermannstadt heute?

Dörr: Es ist uns als Kirchengemeinde ein Anliegen, evangelische Themen auch in die Gesellschaft unserer Stadt und unseres Landes einzubringen. In diesem Sinne nutzen wir auch die renovierte Stadtpfarrkirche: Sie ist zehn Stunden täglich für Besucher geöffnet, Kirchenführer erzählen über Gebäude und Gemeinde, es gibt verschiedene Erinnerungsorte wie etwa zur Russland-Deportation von Teilen der Siebenbürgischen Bevölkerung 1945. Zu den Sonntagsgottesdiensten kommen tägliche Mittagsgebete und wöchentlich zwei Konzerte. Unser Gästebuch zeugt davon, dass die Kirche im Trubel des Alltags und der touristischen Besichtigungen für Einheimische wie für Touristen immer wieder einen Ort der Spiritualität darstellt und zum Innehalten einlädt. Dazu zählen auch Konzerte außerhalb der Reihen, die unsere Kirchenmusiker zusammen mit Philharmonikern oder dem Hermannstädter Theater veranstalten.

Nicht nur im Bereich der Kirchenmusik ist Ihre Gemeinde engagiert, sondern es gibt auch weitere, kulturelle Angebote wie zum Beispiel Ausstellungen.  

Dörr: Ganz aktuell, zum großen Sachsentreffen Anfang August, zu dem viele der Ausgewanderten nach Hermannstadt anreisen, zeigen wir eine Ausstellung zum Thema der Entwurzelung und Einwurzelung, Texte von Simone Weil und Fotos großer Fotografen sind dort zu sehen. Außerdem feiern wir in diesem Jahr das 30. Jubiläum der Frauenordination in unserer Kirche. Eine Grafik-Ausstellung wird ein dunkleres Kapitel der Geschichte des Verhältnisses zu den Frauen ausleuchten: Entlang der 192 Stufen der Kirchturmtreppe erzählen Bilder von Sieglinde Bottesch von den Hexenverfolgungen in Siebenbürgen. Und vor der Kirche wird es eine historische Ausstellung über den Andreanischen Freibrief geben, ein Dokument des ungarischen Königs Andreas II. aus dem Jahr 1224, das die Sonderrechte der siebenbürgischen Siedler damals zu Landbesitz, eigener Rechtsprechung und Pfarrwahl über Jahrhunderte sicherte. 

Welche theologischen Themen spielen in Ihrer Gemeinde heute eine Rolle?

Dörr: Ein wichtiges Thema unserer Kirchengemeinde ist die Bewahrung der Schöpfung. Seit 2006 wurden wir dreimal nach der "EMAS Norm" der Europäischen Union für unser Umweltmanagement zertifiziert. Wir produzieren zum Beispiel an zwei Standorten eigenen Strom und praktisch alle Häuser haben Solaranlagen für Warmwasser auf den Dächern. Essen auf Rädern fahren wir elektrisch aus, wir pflanzen Bäume, wo es nur geht. Die Zertifizierungsprozedur ist uns mittlerweile zu umständlich und kostspielig, doch ich finde es wichtig, die Menschen hinsichtlich der Bewahrung der Schöpfung zu sensibilisieren, etwa welche Lebensmittel wir essen, zu Fragen der Biodiversität oder ob wir landwirtschaftliche Flächen an Unternehmen verpachten, die mit Gentechnik arbeiten. Unsere Gemeinde betreibt jeden Freitag rund um die Stadtpfarrkirche einen Biomarkt, auf dem lokale Produzenten ihre Waren anbieten.

Wir haben jetzt über die Vergangenheit und über die Gegenwart gesprochen. Wie geht es weiter mit der Evangelischen Kirche in Rumänien

Dörr: Ich denke, dass es gerade in den Städten ein großes Potential für unsere Kirche gibt, unsere Arbeit auszubauen und für die Menschen, die hier leben, interessant zu sein. Meine jetzige Konfirmandengruppe besteht zu drei Vierteln aus Jugendlichen, die aus Rückkehrerfamilien kommen. Dann gibt es Rumänen, die an der Kirche interessiert sind und die Kirchenmusik schätzen, unsere Chormitglieder haben zum Beispiel keine gemeinsame Sprache, sondern es geht hin und her zwischen Deutsch, Englisch und Rumänisch. Ich denke, dass wir als Kirche mit beiden Beinen im Leben stehen und angesichts der hiesigen Ellenbogengesellschaft etwas an evangelischen Werten wie Eigenverantwortung statt Hierarchiegläubigkeit sowie Rücksicht auf Minderheiten aller Art anzubieten haben, die das Leben schöner machen.