Der erste Wettkampftag bei Olympia war noch nicht vorbei, da gab es bereits großes Geschrei im Internet. Anlass war eine Szene während der Eröffnungsfeier, bei der queere Künstler:innen einen Auftritt hatten. Vor allem konservative Theolog:innen, aber auch Politiker:innen wie Donald Trump übten harsche Kritik.
Sie sahen in der Szene eine ungebührliche Anspielung auf das Gemälde "Das letzte Abendmahl" von Leonardo Da Vinci und eine damit verbundene Verhöhnung der christlichen Religion. Die Medien griffen diese Diskussion auf. Auch der Sportbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Stefan Oster, und der Sportbeauftragte der EKD, Präses Thorsten Latzel (EKiR), äußerten sich kritisch, auch wenn sie dabei ganz unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Um so wichtiger erscheint ein exakter Blick auf das Geschehen.
Die Szene
Es bedarf zunächst einer genauen Analyse der eigentlichen Szene. Die Eröffnungsfeier läuft bereits seit fast zwei Stunden, da cuttet die Kamera in eine Panoramaaufnahme einer beleuchteten Brücke in Paris, ein klassischer "Establishing-Shot", um in die Szenerie einzuführen (01:54:35). Schnitt. Nun im Bild ist DJane Barbara Butch. Mit den Händen macht sie ein Herzzeichen vor der Brust. Die Kamera zoomt heraus und man sieht, dass viele weiter Künstler:innen und Dragqueens hinter einem großen "Tisch" stehen, auf dem jedoch nur das DJ-Pult von Butch steht. Während sich die Künstler:innen langsam zu bewegen beginnen, bewegt sich die Kamera in einem Halbkreis nach rechts und anschließend wieder zurück. Bei der Rückwärtsbewegung wird das Wort "Festive" eingeblendet. Jetzt ändert die Musik den Rhythmus und von links geht die erste Künstler:in über den Tisch, der damit zum Laufsteg wird. Im folgenden Verlauf der Veranstaltung schaltet die Kamera immer wieder zurück zur Brücke, wo Künstler:innen auf dem Laufsteg performen. Bei 02:38:26 schaltet die Kamera nun ein letztes Mal auf die Brücke. Die Künstler:innen stehen nun alle wieder hinter dem Laufsteg (es sind jetzt deutlich mehr als vorher). Vorne im Bild wird eine Speiseglocke gelüftet. Zum Vorschein kommt ein blauer, (fast) nackter Mann, der Sänger Philippe Katerine, der seinen Song "Nu" (Nackt) singt. Mit der Überblendung "Obscurite" endet die Szenerie.
Abendmahl? Wo?
Betrachtet man die Szene genauer, so lässt sich feststellen, dass es in der Szene selbst so gut wie keine Anspielungen auf das Gemälde "Das letzte Abendmahl" gibt. Der "Tisch" ist leer und nicht wie im Gemälde mit Essen versehen. Überhaupt wäre zu fragen, ob die Personen hinter einem Tisch stehen oder ob man nicht viel eher von einem Laufsteg ausgehen müsste, der in das modebewusste Paris ("Emily in Paris" lässt grüßen) auch sehr gut passen würde. Die von Butch eingenommene Körperhaltung stimmt nicht mit der Haltung Jesu im Gemälde überein. Auch Farbgebung und die Körperhaltungen der anderen Personen sind unterschiedlich. Außerdem sind es mehr als zwölf Personen, die Butch umringen. Mit Blick auf die gesamte Gestaltung der Szene muss man aus meiner Sicht eine Nähe zu dem Gemälde Da Vincis eher in Frage stellen. Der einzige Bezug zum Gemälde sind Personen, die hinter einem Tisch stehen. Das ist, bei allem Respekt, ein sehr dürftiger Beleg. Ist dann die Darstellung des Lehrertischs bei "Harry Potter" auch eine Anspielung auf Da Vinci?
Mag.theol. Gereon Terhorst (*1990) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster und schriebt eine Dissertation über die Darstellung des Abendmahls in aktuellen Kinofilmen aus liturgischer Perspektive. Er ist Teil des YEET-Netzwerks und im Vorstand von Interfilm Deutschland e.V.
Auch die Szene am Ende steht wohl nicht im Kontext des Abendmahls. Häufig verwiesen wird auf das Gemälde "Fest der Götter" von Jan van Bijlert, unter anderem von dem niederländischen Kunsthistoriker Walther Schoonberg auf "X". Zwar könnte der Maler selbst von Da Vinci inspiriert worden sein, aber die Darstellung des Götterfests bei Bijlert wird damit nicht zum Abendmahl. Zudem passt ein griechisches Götterfest in den Kontext von Olympia viel besser hinein als ein Abendmahl. Denn die olympische Idee ist älter als das Christentum und Da Vincis Gemälde.
Und auch Thomas Jolly, der Regisseur der Eröffnungsfeier, betonte in der anschließenden Pressekonferenz, dass das Abendmahlgemälde von Da Vinci in keiner Weise hier als Vorlage gedient habe.
Die Kritik geht am Inhalt vorbei
Die Deutung als Abendmahl und die damit verbundene Verurteilung hat aus meiner Sicht zwei Gründe. Der erste – und das ist ziemlich traurig zu sagen – ist, dass es gar nicht um das Abendmahl geht, sondern eigentlich um die dargestellte Queerness. Das eigene Unbehagen (oder gar Queerfeindlichkeit) kann so unter dem Deckmantel der Kritik an der Darstellung des Abendmahls (beziehungsweise der Eucharistie) weiter geäußert werden. Es spielt dabei keine Rolle, was wirklich dargestellt wurde, sondern nur darum, wer zu sehen war. Das ist in der Tat respektlos, aber nicht gegenüber dem Abendmahl, sondern gegenüber queeren Personen.
Der zweite Grund ist eine, aus meiner Sicht, unreflektierte Rezeption des medialen Geschehens, das die eigentliche Darstellung gar nicht richtig ernst nimmt. Es mag sein, dass ein erster Impuls ist, die Inszenierung als eine Anspielung auf das Gemälde zu verstehen. Das ist auch in den Medien zum Teil geschehen. Aber gerade bei einer Irritation würde sich doch ein genauer Blick lohnen, der nicht nur auf den eigenen Gefühlen beruht. Dann würde man vielleicht doch ins Grübeln kommen. Warum sollte das Gemälde Da Vincis, das nicht in Paris ausgestellt ist, überhaupt bei einer Olympiafeier zur Darstellung kommen? Hätte es nicht, wenn eine Anspielung gewollt gewesen wäre, offensichtlichere Bezüge gegeben? Man hätte den Tisch decken können oder man hätte sich zumindest in der Gestik mehr an Da Vinci angenähert. All dies ist aber nicht passiert. Sondern es haben Menschen an einem Tisch/Laufsteg gefeiert. Daran gibt es nichts auszusetzen.
Für mich offenbart der Umgang mit der Eröffnungsfeier einmal mehr, dass es gerade im Bereich von Kirche und Theologie einen besseren Umgang mit Film und TV geben muss. Die Kritik erscheint aus einer wenig fundierten Betrachtung zu kommen, die das eigene Weltbild viel zu wichtig nimmt und sich nicht mit der eigentlichen Darstellung und ihren Eigenheiten auseinandersetzt. Dabei wäre genau dies nötig, um nicht ein Bild einer Kirche zu zeichnen, die Spaßbefreit und unfair gegen alles wettert, was ihr nicht passt und der es nicht inhaltlich um die Sache geht. Bei einem biblischen Text erwarten wir doch auch eine ordentliche Exegese. Warum nicht bei Filmen oder TV-Sendungen? Es gäbe dort einige spannende Entdeckungen für Thelog:innen zu machen, die man gar nicht auf den ersten Blick erkennt. Genau hingucken lohnt sich also.