Hannover (epd). Extremisten sind nach Ansicht des Kriminologen Dieter Uden in den seltensten Fällen politische Überzeugungstäter. Vielmehr seien psychosoziale Schwierigkeiten und dysfunktionale Familienverhältnisse sowie ein mangelndes Selbstwertgefühl die Gründe dafür, dass Menschen in extremistische Szenen abrutschten, sagte der Leiter des Aussteigerprogramms „Aktion Neustart“ in Hannover im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Weg aus dem Extremismus sei schwierig und dauere lang - oft mehrere Jahre.
Seit 2010 berät und unterstützt das Präventionsprogramm des niedersächsischen Verfassungsschutzes ausstiegswillige Extremisten. Das Programm deckt alle extremistischen Phänomene ab: Rechts- und Linksextremismus, Islamismus sowie die extremistische Scientology-Organisation und extremistische Bewegungen mit Auslandsbezug, etwa die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder die rechtsextremen „Grauen Wölfe“ aus der Türkei.
Insgesamt haben laut Uden bislang 90 Personen mithilfe der „Aktion Neustart“ seit 2010 den Ausstieg geschafft, 44 werden aktuell betreut. Das Durchschnittsalter liegt den Angaben zufolge bei 22 Jahren. Die Berater sind Polizisten, Pädagogen, Psychologen und Politologen.
Oft seien junge Menschen gefährdet, die aus schwierigen Elternhäusern stammten, in denen es Defizite in der Erziehung gebe, sagte Uden. „Die Rolle des Vaters ist oft ungut, entweder, weil er sich gar nicht kümmert, oder weil er zu autoritär ist.“ Ferner spielten Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen eine Rolle.
Die meisten Menschen schlössen sich nicht aus rassistischen Motiven Rechtsextremen an, sondern weil sie eine Gemeinschaft suchten, in der sie Anerkennung erfahren. „Niemand, der zufrieden ist, wird zum Extremisten.“
Impulse, der Szene den Rücken zu kehren, seien häufig das Bedürfnis nach Ruhe - vor staatlichem Druck, Strafverfolgung, Anfeindungen anderer extremistischer Gruppen. Uden zufolge merken die Betroffenen, dass das, was sie in der extremistischen Gruppe erleben, nicht dem entspricht, was die Gruppe nach außen als Leitbild kommuniziert. Meinungsfreiheit etwa werde oft sehr hoch gehängt. „Und dann merken unsere Klienten: Wenn ich aber meine Meinung sage, werde ich verprügelt.“
Beim Ausstieg aus dem Extremismus ist nach Beobachtung von Uden Einsamkeit ein häufiges Problem. „Die Menschen müssen sich alles neu suchen, Freunde, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz.“ Bei dieser Neuausrichtung helfe die Aktion Neustart„. Geduld und Beharrlichkeit seien in dieser Phase gefragt, aufmunternde Worte wichtig: “Ein neuer Arbeitsplatz bedeutet nicht nur Geld, sondern auch Alltagsstruktur und ein neues soziales Umfeld. Das gibt Stabilität."
Auch beim Löschen der Spuren in den sozialen Netzwerken unterstützten die Berater Ausstiegswillige. „Wenn es nötig ist, auch beim Namens- und Wohnortwechsel - das sind aber Ausnahmen.“