Seit Veröffentlichung der evangelischen Missbrauchsstudie vor gut einem Jahr haben sich in fast allen Landeskirchen neue Betroffene gemeldet. In einigen der mitgliederstärksten Landeskirchen gab es einen deutlichen Anstieg der Meldungen, wie etwa in Bayern, Westfalen oder Hannover, wie eine Umfrage des Evangelischen Pressedienst unter den 20 Landeskirchen ergab. Alle 20 Landeskirchen antworteten auf die Anfrage.
In der evangelischen Kirche von Westfalen stieg die Zahl der gemeldeten Fälle von 37 im Jahr 2023 auf 60 Fälle im Jahr 2024, 56 davon nach Veröffentlichung der sogenannten ForuM-Studie am 25. Januar vergangenen Jahres.
Für die Studie hatte ein unabhängiges Forscher-Team Ursachen und Ausmaß sexualisierter Gewalt im evangelischen Kontext untersucht. Die Forscher sammelten dafür Fallbögen aus allen Landeskirchen und Landesverbänden der Diakonie.
"Aufarbeitung kann vorangetrieben werden"
Sie kamen in ihrer Auswertung auf mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 Beschuldigte, darunter 511 Pfarrpersonen. Zugleich ist aber von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Es ist die erste bundesweite Studie dieser Art.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), der alle 20 Landeskirchen angehören, begrüßte, dass sich viele weitere betroffene Personen bei den Ansprech- und Meldestellen der Landeskirchen gemeldet haben. "Es ist äußerst positiv, dass durch Aufarbeitungsschritte wie die ForuM-Studie und die damit einhergehende Aufmerksamkeit für das Thema, sich mehr betroffene Personen melden und so die Aufarbeitung insgesamt weiter vorangetrieben werden kann", sagte ein Sprecher.
In der Landeskirche Hannover wurden 20 neue Fälle gemeldet. 32 Meldungen gab es in Bayern im Jahr 2023, im Jahr 2024 seien es etwa doppelt so viele Meldungen, teilte die Landeskirche mit. Die genaue Zahl sei noch nicht bekannt. In Bremen überstieg die Zahl der 2024 neu gemeldeten Fälle (17) die Zahl der bislang bekannten (11).
Von verbalen Übergriffen bis zu Straftaten
Die meisten der 2024 neu gemeldeten Fälle beziehen sich auf mutmaßliche Vorfälle aus der Vergangenheit, nicht alle Landeskirchen machen aber Angaben dazu. Die Meldungen beinhalten das ganze Spektrum sexualisierter Gewalt von verbalen Übergriffen bis hin zu heute strafbaren Handlungen.
Eine Vergleichbarkeit und damit eine Gesamtsumme aller Fälle ist wegen unterschiedlicher Falldefinitionen kaum möglich. Einigen nennen die Zahl der in der jeweiligen Anerkennungskommission bekannten Fälle, andere geben auch die gesamte Zahl der gemeldeten Vorfälle an - unabhängig davon, ob Betroffene sich an die Anerkennungskommission gewandt haben.
Fachstellen umstrukturiert und aufgestockt
Fast alle Landeskirchen, die sich auf die Umfrage zurückgemeldet haben, haben ihre Fachstellen für sexualisierte Gewalt im Jahr 2024 umstrukturiert und aufgestockt. Nur die Nordkirche veränderte nichts. Sie hat mit acht Vollzeitstellen im EKD-weiten Vergleich eine der größten Stabsstellen in dem Bereich.
Seit 2012 sind nach Angaben der EKD von den Landeskirchen rund 14,5 Millionen Euro (Stand: 31. Dezember 2023) an materiellen Leistungen für Betroffene aus dem kirchlichen Kontext erbracht worden. Die Höhe der bislang gezahlten Anerkennungsleistungen für Betroffene sexualisierter Gewalt variiert regional stark und ist ebenfalls kaum vergleichbar.
In Bayern wurden bis zum Stichtag 31. Dezember 2024 insgesamt knapp zwei Millionen Euro an Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen gezahlt, 94 Anträge wurden bislang entschieden. Die Nordkirche zahlte eine Gesamtsumme von rund 1,5 Millionen Euro, 84 Betroffene waren der dortigen Anerkennungskommission bis Ende Dezember bekannt, 75 hatten das Verfahren beendet.
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau zahlte ebenfalls mehr als eine Million Euro an Betroffene, hier traf die Anerkennungskommission bislang 24 Entscheidungen. Einzigartig ist, dass Betroffenen ein Sockelbetrag in Höhe von 20.000 Euro für das systemische Versagen der Kirche gewährt wird. Die württembergische Landeskirche zahlte Betroffenen im Dezember 2024 zusätzlich ein Überbrückungsgeld in Höhe von je 1.200 Euro bis zur Fertigstellung der Anerkennungsrichtlinie auf EKD-Ebene, insgesamt bislang mehr als 700.000 Euro.
Die Evangelische Kirche im Rheinland zahlte nach Entscheidung der dortigen Anerkennungskommission insgesamt 725.000 Euro an 40 Betroffene. In der größten evangelischen Landeskirche Hannover wurden bis November 2024 rund 200.000 Euro an Anerkennungsleistungen gezahlt. Die EKD reformiert derzeit das System für die Anerkennungsleistungen. Ziel ist eine Vereinheitlichung und mehr Transparenz für Betroffene bis März.
Hintergrund: ForuM-Studie
Ein unabhängiges Forscher-Team veröffentlichte im Januar 2024 eine Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie. Es ist die erste bundesweite Studie dieser Art. Die Forscher gehen darin von mindestens 1.259 Beschuldigten, darunter 511 Pfarrpersonen, und mindestens 2.225 Betroffenen für den Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie aus.
Die Studie wurde vom interdisziplinären Forschungsverbund "ForuM - Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland" erstellt. Die EKD hat die Studie mit 3,6 Millionen Euro gefördert. Der Forschungsverbund wurde von Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover koordiniert.
Ziel der Studie war es, eine empirische Grundlage für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den 20 evangelischen Landeskirchen, der EKD und der Diakonie zu legen. Dazu wurden neben Fallzahlen auch strukturelle Ursachen für Missbrauch und der Umgang mit Betroffenen erforscht. Betroffene waren zum Teil auch selbst als Co-Forschende beteiligt oder wurden zu ihren Erfahrungen interviewt.
Bei der Vorstellung der Studie kritisierten die Forscher Schwierigkeiten bei der Datenerhebung. Denn dabei waren sie auf die Zuarbeit der Landeskirchen und Diakonie-Landesverbände angewiesen, die eigene Beschäftigte mit der Aktendurchsicht beauftragten. Ursprünglich gehörte eine stichprobenartige Durchsicht von Personalakten zum Forschungsdesign. Bis heute streiten sich Landeskirchen und Forscher über die Gründe, warum diese nicht stattfand. Es wurden stattdessen nur sogenannte Disziplinarakten für Pfarrer (4.282) durchgesehen. Die Fallzahlen würden dadurch erheblich unterschätzt und zeigten allenfalls die "Spitze der Spitze des Eisbergs", bemängelten die Forscher.
Die Studie gibt zudem Hinweise auf den Umgang mit Betroffenen, wenn diese Taten bei kirchlichen Stellen anzeigten. Betroffene erlebten zumeist kaum Unterstützung und wenig Sensibilität. Ihre Darstellung wurde laut Studie angezweifelt, die Beschuldigten oftmals geschützt.