Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärt die die evangelische Bischöfin für den Sprengel Schleswig und Holstein, Nora Steen, welche Schritte die Nordkirche nach den Ergebnissen der Missbrauchsstudie gehen muss, wie sie hilfebedürftigen Senioren auf dem Land helfen will und warum sie das Amt der Bischöfin nicht zu einem besseren Menschen macht.
epd: Frau Steen, Ihre ersten Wochen als Bischöfin waren geprägt von zahlreichen Krisen, die auch vor Schleswig-Holstein und der Kirche nicht Halt gemacht haben. Haben Sie es schon bereut, das Amt angetreten zu haben?
Nora Steen: Nein. Es sind wirklich bewegte Zeiten, aber ich sehe das relativ gelassen. Es ist gut, dass wir als Kirche aktuelle Themen aufgreifen. Wenn ich das nicht mögen würde, wäre ich hier tatsächlich falsch.
Ende Januar kamen dann noch die Ergebnisse der ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche heraus. Welche Schlüsse ziehen Sie für sich?
Steen: Als Erstes ist es unsere Aufgabe, die Ergebnisse ernst zu nehmen. Wenn noch Akten fehlen, müssen wir die nachliefern. Ich bedaure aber, dass der Fokus sehr auf der Aktenfrage lag. Denn das eigentliche Thema ist doch: Es gibt Menschen in vielen Kirchengemeinden, die betroffen sind von sexueller Gewalt. Ich wünsche mir, dass die Fälle nun von der Staatsanwaltschaft aufgeklärt werden und wir uns als Kirche Gedanken machen, wie wir Menschen wirklich einen sicheren Raum geben können.
"Was wir bisher getan haben, reicht nicht. Betroffene spiegeln uns, dass sie sich nicht frei fühlen, alles zu sagen."
Haben Sie schon Ideen für die Nordkirche?
Steen: Für mich steht an erster Stelle der Kontakt mit den Betroffenen. Gemeinsam mit ihnen müssen wir herausfinden, was ein guter Weg sein kann. Wir haben in der Nordkirche schon seit 2018 ein Präventionsgesetz. In jedem Kirchenkreis gibt es Beratungsstäbe, die multiprofessionell besetzt sind. Was wir bisher getan haben, reicht nicht. Betroffene spiegeln uns, dass sie sich nicht frei fühlen, alles zu sagen. Und das haben wir jetzt anzunehmen und umzusetzen, aber nicht nur aus uns selbst heraus.
Sprechen Sie selbst auch mit Betroffenen?
Steen: Ja, ich hatte schon Gespräche mit einzelnen Betroffenen und habe es weiterhin vor. Aber das ist ein sensibler Bereich, da muss erst Vertrauen aufgebaut werden, sofern Betroffene das überhaupt noch wollen.
Was ist aus Ihrer Sicht der Grund für die vielen Missbrauchsfälle in der Kirche?
Steen: Wir müssen an einem Kulturwandel arbeiten, transparent werden in unseren Strukturen und in der Kommunikation. Das aber kann von oben nicht verordnet werden. Das ist eine innere Haltungsfrage und wird dauern. Wir als Kirche sind nicht unfehlbar und das müssen wir vermitteln. Betroffene hatten oft das Gefühl, Amtsträger seien unantastbar, deshalb haben viele nichts gesagt. Sie dachten, ihnen glaube keiner. Und das war ja oft auch so. Jetzt ändert sich das zum Glück.
Zudem hat die Studie klar gezeigt: Wir haben selbstständige Kirchengemeinden und Kirchenkreise, die autark ihre Akten führen. Es gibt keine zentrale Zugriffsmöglichkeit, weil das nicht unserem Kirchenbild entspricht. Das macht die Lage sehr unübersichtlich.
Verlieren Sie nie den Glauben an die Kirche?
Steen: Ich verliere nie den Glauben an Gott. Ich glaube auch an die weltweite Kirche. Aber die Kirche manifestiert sich ja in einer Institution. Und an die darf man ruhig Fragen haben. Die muss sich anpassen an die Lebenswirklichkeit der Menschen. Also sollten wir uns rasch aufmachen und Kirche neu gestalten.
Was kann da ein Beispiel sein?
Steen: Traditionell findet der Gottesdienst sonntags um 10 Uhr statt. Nicht in allen Dörfern und Städten erweist sich diese Zeit sinnvoll. Dann ist es gut, wenn Kirchengemeinden flexibel reagieren.
Schleswig-Holstein ist ländlich geprägt. Ist das ein Vor- oder Nachteil für die Kirche?
Steen: Kirche ist noch nahezu in jedem Dorf präsent, das müssen wir nutzen. Der Gasthof, die Kirche und die Feuerwehr haben das Dorf früher zusammengehalten. Die Gasthöfe sterben leider aus. Öffentliche Räume für das gemeinschaftliche Dorfleben fehlen. Die kann aber Kirche anbieten und sollte das auch offensiver tun. Einige Kirchengemeinden gehen schon beispielhaft voran, in dem sie Essen in Gemeinschaft anbieten. So müssen Alleinstehende nicht einsam zu Hause sitzen. Einsamkeit gerade älterer Menschen wird im ländlichen Raum ein großes Problem, das möchte ich mit den Kirchenkreisen angehen.
"Staat, Kirche und andere Sozialträger müssen sich zusammentun und ein Netz ehrenamtlicher Hilfe aufbauen."
Warum wird das zum Problem?
Steen: Viele Senioren leben allein in ihren Häusern, haben wenige Kontakte. Außerdem ziehen sich die ambulanten Pflegedienste aufgrund des Fachkräftemangels teilweise aus dem ländlichen Raum zurück.
Und was kann Kirche tun?
Steen: Staat, Kirche und andere Sozialträger müssen sich zusammentun und ein Netz ehrenamtlicher Hilfe aufbauen, bestehend aus Gemeindeschwester, Besuchs- und Fahrdiensten.
Was offenbar auch zunehmend zum Problem wird, sind rechtsextreme und antisemitische Tendenzen. In den vergangenen Wochen waren Sie selbst auf einigen Gegendemonstrationen.
Steen: Ja, es beschäftigt mich sehr, dass Menschen in unserem Land sich nicht frei fühlen, ihre Religion auszuüben. Ich bin mit dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden in engem Kontakt, da ist die Angst vor Übergriffen seit dem 7. Oktober 2023 sehr gestiegen. Ihre Sorgen vor verbalen und körperlichen Angriffen sind nicht unbegründet. Die Fälle nehmen zu.
Genauso weiß ich das aber auch aus der muslimischen Community. Da steigt auch die Sorge vor Anfeindungen. Und zwar zu Recht. Es gibt Fälle, bei denen muslimische Kinder auf dem Schulhof wegen ihres Glaubens bedroht und beleidigt werden. Die Stimmung ist angeheizt. Man kann sagen, sie ist im Klassenzimmer angekommen. Das macht es brisant.
Zusätzlich zu Ihren zahlreichen Terminen sind Sie weiterhin auf Social Media aktiv.
Steen: Social Media ist mir wichtig. Ich merke, dass meine Tonalität vielen Menschen guttut. Es ist mir ein Anliegen, auf diesem Kanal Seelsorge zu betreiben, die Sorgen und Ängste der Menschen aufzunehmen und mit meinen Gedanken zu verbinden.
Vor Ihrer Wahl forderten Sie einen Aufbruch der Nordkirche.
Steen: Ja, und der beginnt bereits mit vielen jungen Menschen in den Synoden, die jetzt ihre Arbeit aufnehmen. Das ist ein tolles Signal!
Vor Ihrer Wahl haben Sie betont, dass Sie auch als Bischöfin authentisch bleiben wollen. Klappt das?
Steen: Ja, bisher musste ich mich nicht verbiegen. Und es ist mein größtes Anliegen, es auch nicht zu tun. Ich merke, dass das Amt für viele Menschen eine große Projektionsfläche ist. Das ist in Ordnung. Trotzdem ist es mir wichtig, zu zeigen, dass ich ein Mensch bin und auf einer Stufe stehen mit allen anderen Glaubenden. Ich habe lediglich eine andere Funktion, die mit bestimmten Aufgaben verknüpft ist. Mehr ist es nicht. Viele Menschen begegnen mir ehrfürchtig, das muss aber überhaupt nicht sein. Als Bischöfin bin ich nicht heiliger oder besser als andere.
Allerdings öffnet das Amt mir im Land, in der Wirtschaft, in der Politik viele Türen. Ich hätte nicht gedacht, dass die Wertschätzung auf nicht-kirchlicher Ebene so groß ist - beispielsweise auf den Demos, die Sie schon ansprachen. Ich werde um meine Meinung gebeten, mein Wort hat Gewicht. Das ermöglicht auf vielen Ebenen Zusammenarbeit und das möchte ich natürlich nutzen.
Wo werden Sie künftig Schwerpunkte setzen?
Steen: Ich möchte die Gespräche auf Landesebene gut führen, ansprechbar sein, Kirche verkörpern. Außerdem möchte ich viel vor Ort sein, mir auch die Schmerzpunkte dieses Landes anschauen. Ich war vor Weihnachten in Bahnhofsmissionen und Obdachlosenunterkünften unterwegs, um Menschen zu treffen, die raus sind aus dem Fokus unserer Gesellschaft. Ich wollte zeigen: "Ich sehe euch." Das klingt klein, für diese Menschen war es aber eine große Sache.
Manchmal werden Sie fälschlicherweise als Landesbischöfin betitelt. Dieses höchste Amt der Nordkirche hat aber Kristina Kühnbaum-Schmidt inne. Können Sie sich vorstellen, ihr nachzufolgen?
Steen: Mein jetziges Amt ist genau das, was ich machen möchte. Ich brauche Bodenhaftung im Sinne einer großen Verbundenheit zu einer bestimmten Region, das habe ich hier. Es zieht mich nichts auf andere Ebenen.