Zu ihrer Überraschung entpuppte sich ihre Rolle in der kühnen Neuinterpretation als rundum positive Figur, die samt Adoptivtochter Opfer eines finsteren Komplotts wird: Anders als im Grimm’schen Klassiker haben die bitterarmen Eltern das Baby einst in Eleonors Obhut gegeben, weil es sonst verhungert wäre.
Ein paar Jahre später ist Rapunzel zu einem fröhlichen Wildfang herangewachsen. Mit der Unbeschwertheit ist es jedoch vorbei, als das Kind seine Ziehmutter zu einem traditionellen Ritual ins Schloss begleitet. Um sich als würdiger Nachfolger seines verstorbenen Vaters zu erweisen, muss Prinz Sigismund, alles andere als ein Draufgänger, eine waghalsige Mutprobe absolvieren, die er mit Eleonors unmerklicher Hilfe tatsächlich besteht.
Königin Freya (Christina Große) fordert sie auf, ihrem Sohn wie einst dessen Vater die Treue zu schwören. Als die Zauberin sich weigert, weil sie Magie nur noch im Guten einsetzen will, lässt Freya sie samt Rapunzel in den Kerker werfen. Nach der Befreiung durch Sigismund ziehen sich Mutter und Tochter in ein perfekt verstecktes Refugium zurück, wo das Mädchen sein Dasein fortan in einem türlosen Turm fristet. Nun wandelt sich die Geschichte zum Emanzipationsdrama, denn sieben Jahre später kommt es regelmäßig zum Streit zwischen Mutter und Tochter: Rapunzel denkt jeden Tag an Sigismund, aber sie darf den Turm nicht verlassen.
Wer der reinen Lehre anhängt, wird mit dem romantischen Abenteuer, das sich nun entwickelt, vielleicht ein wenig fremdeln, aber in dieser Variation der Vorlage liegt der Reiz des Films; das gilt ja auch für die modernen Hollywood-Versionen klassischer Märchen ("Rapunzel – Neu verföhnt").
Drehbuchautor Max Honert hat bereits einige Märchenfilme fürs ZDF geschrieben und bekannte Stoffe schon früher sehr kreativ neu erfunden, zuletzt mit "Das Märchen vom Frosch und der goldenen Kugel" (2022), inszeniert von Ngo The Chau. Der Kameramann ist mehrfach mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet worden (unter anderem 2020 für die ZDF-Serie "Bad Banks") und hat mit den ZDF-Weihnachtsmärchen "Die Hexenprinzessin" (2020) und "Zwerg Nase" (2021) seine ersten Filme als Regisseur gedreht. An die optische Opulenz seiner Werke reicht die "Rapunzel"-Inszenierung Christoph Heimers jedoch nicht heran, selbst wenn die Anfangsszenen im Zauberwald dank der visuellen Effekte sehr farbenfroh sind.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Auch darstellerisch ist das Langfilmdebüt mitunter leicht unrund. Anna Wittowsky macht ihre Sache als junge Titelheldin im Großen und Ganzen gut, hat aber bei Dialogen und Gesten gewisse Schwächen. Nach einem Zeitsprung in die Teenagerjahre sind Rapunzel und Sigismund mit Anna-Lena Schwing und Luke Matt Röntgen zwar ansprechend besetzt, aber wie so oft in solchen Filmen hat die interessantere Rolle nicht das Liebespaar, sondern der beste Freund: Tom Böttcher ist als Hofnarr Pip, der der Königin mit seinen kecken Scharaden einen frechen Spiegel vorhält, auch aus erwachsener Sicht ziemlich witzig.
Pips Kommentare sorgen regelmäßig für eine ironische Brechung des ansonsten klassisch und kindgerecht erzählten Märchens; als begnadeter Stimmenimitator ist er zudem maßgeblich an gleich drei entscheidenden Wendepunkten beteiligt. Andrea Sawatzki und Christina Große sind ohnehin eine treffliche Besetzung für die beiden Gegenspielerinnen.
Der Rest ist inhaltlicher Einfallsreichtum: Endlich hat Rapunzel einen Ausweg aus ihrem Turmzimmer gefunden, aber die Wendeltreppe führt sie bloß wieder an den Ausgangspunkt zurück; Magie beherrscht sie nur für den Hausgebrauch. Für ihre Flucht aus dem gutgemeinten Gefängnis greift sie zu einer bewährten Ausbruchmethode. Anschließend läuft sie Sigismund geradewegs in die Arme; es handelt sich schließlich um ein Märchen.
Allerdings erfahren auf diese Weise auch Freyas Häscher, wo sich Eleonor und ihre Tochter verbergen. Zum Zweikampf der Frauen bedient sich Heimer ein bisschen beim Superheldenkino; die Szene ist angemessen eindrucksvoll. Die gute Musik von Stefan Maria Schneider setzt ebenfalls entsprechende Akzente, und das Elbsandsteingebirge (hier die Tyssaer Wände in der Böhmischen Schweiz) erweist sich nicht zum ersten Mal als pittoresker Drehort für einen Märchenfilm.