Berlin (epd). Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat die Rolle der Jugendämter in Fällen sexueller Gewalt untersuchen lassen. Anlass für die am Dienstag in Berlin vorgestellte Fallstudie waren Berichte Betroffener, „wonach das Jugendamt kontaktiert wurde, aber kein Schutz erfolgte“, wie es die Sozialwissenschaftlerin Barbara Kavemann formulierte. Kavemann forscht seit Jahrzehnten zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und gehört der Aufarbeitungskommission an.
Die höchste Hürde ist die Kontaktaufnahme überhaupt. Der Studie zufolge hindert die Angst vor dem Jugendamt Kinder, Jugendliche und auch Angehörige häufig, sich an die zuständige Behörde zu wenden. Zu den Strategien der Täter gehört, die Opfer zum Schweigen zu verpflichten. Wenn das Jugendamt erfahre, was ihnen passiere, kämen sie ins Heim.
Die Erfahrungen mit den Ämtern können nach dem ersten Kontakt der Studie zufolge hingegen durchaus positiv sein und im Verlauf das Kind aus der Gewalt befreien. In etlichen Fällen wirkten Jugendämter aber auch abweisend oder überfordert, erklärten die Forscher und Forscherinnen. Die Fallstudie basiert auf der Auswertung von 69 Anhörungen bzw. Berichten Betroffener aus sieben Jahrzehnten, von acht Jugendamtsakten sowie auf Interviews mit Fachkräften.
Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen formulieren Empfehlungen für die Jugendämter. Entscheidend beim ersten Kontakt sei, die Hilfesuchenden ernst zu nehmen und ein Klima zu schaffen, in dem sexuelle Gewalt angesprochen werden könne. In den meisten Fällen redeten Kinder und Jugendliche zunächst nicht über den Missbrauch. In fast der Hälfte der in die Studie einbezogenen Fälle (47 Prozent) wurden die Gewalttaten von Vätern, Stief- und Pflegevätern begangen.
Kavemann sagte, Jugendämter müssten für Kinder und Jugendliche zugänglich sein. Die Kinder- und Jugendtherapeutin Ilka Katrin Kraugmann vom Betroffenenrat bei der Missbrauchsbeauftragten des Bundes forderte, die hohen Hürden abzubauen. Ein Jugendamt müsse für ein Kind fassbar sein, sich im Internet präsentieren, Gesichter und Räume zeigen, seine Arbeit erklären und die Rechte der Kinder und Jugendlichen deutlich machen. Für Kinder, die Gewalt ausgesetzt seien, würde es viel ändern, wenn sie wüssten, dass sie Rechte haben und dass es Jugendämter gibt, sagte Kraugmann. Sie seien häufig völlig allein mit dem, was ihnen widerfahre und könnten es kaum in Worte fassen.
Die Aufarbeitungskommission fordert, Betroffene müssten Einsicht in die Jugendamtsakten nehmen können. Außerdem sollte ihnen ihre Akte in einem Archiv zugänglich gemacht werden, wenn die Aufbewahrungsfrist bei den Behörden ablaufe. Bei der Aufarbeitungskommission melden sich überwiegend Erwachsene, die als Kinder in der Familie, in Institutionen oder Kriminellen-Ringen sexuelle Gewalt erlitten haben. Es ist oft unmöglich, noch Aufzeichnungen von Ämtern zu finden, wenn die Erfahrungen der Betroffenen Jahrzehnte zurückliegen.
Studien-Mitautor Thomas Meysen sagte, die Kommunen bestimmten, wie lange eine Akte aufbewahrt werde und ob die Betroffenen Einsicht nehmen könnten. Gesetzliche Fristen und das Recht auf die Einsicht gebe es nicht. Es sei daher dringend notwendig, ein Akteneinsichtsrecht einzuführen. Für die Betroffenen seien Informationen aus der eigenen Akte ein Weg, ihre Erfahrungen zu verarbeiten.
Die Studie „Sexueller Kindesmissbrauch und die Arbeit der Jugendämter“ wurde vom Heidelberger Institut SOCLES unter Leitung Meysens erstellt, in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut. Meysen war auch Leiter der Lügde-Kommission beim niedersächsischen Justizministerium, die das Versagen des Jugendamts untersuchte. In Lügde hatte ein Pflegevater auf einem Campingplatz jahrelang Kinder und Jugendliche schwer missbraucht. Der Fall sorgte bundesweit für Entsetzen.