Bielefeld (epd). Infolge von Vorwürfen mangelnder Transparenz bei der Aufklärung eines mutmaßlichen Missbrauchsfalls ist die evangelische Theologin Annette Kurschus von ihren Ämtern als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und als Präses der westfälischen Landeskirche zurückgetreten. Dieser Schritt falle ihr nicht leicht, erklärte Kurschus am Montag in Bielefeld. Sie habe sich für beide Ämter mit Leidenschaft und Herzblut eingesetzt - und mit „Redlichkeit“, die sie sich von niemandem absprechen lasse, wie sie hinzufügte.
Kurschus sagte, statt um die Betroffenen sexualisierter Gewalt und deren Schutz gehe es seit Tagen ausschließlich um ihre Person. „Das muss endlich aufhören.“ Um dieser Aufklärung nicht im Wege zu stehen und bereits erlangte Erfolge dabei nicht zu gefährden, ziehe sie diese Konsequenz. In der Sache sei sie mit sich im Reinen, betonte sie.
Hintergrund für den Rücktritt sind Vorwürfe gegen Kurschus, sie sei nicht transparent mit einem mutmaßlichen Fall sexualisierter Gewalt umgegangen. Im Mittelpunkt des Falls steht ein ehemaliger Kirchenmitarbeiter aus Kurschus' altem Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein, der junge Männer sexuell bedrängt haben soll. Die „Siegener Zeitung“ hatte zuerst über den Fall berichtet.
Mittlerweile soll der Mann im Ruhestand sein. Kurschus kennt ihn nach eigenen Angaben sehr gut. Sie erklärte am Montag, sie sei lange mit der Familie befreundet gewesen. In Siegen war sie ab 1993 als Gemeindepfarrerin und später als Superintendentin tätig.
Der Kirchenkreis und die westfälische Landeskirche sollen seit Anfang des Jahres mit dem Fall beschäftigt sein. Die Staatsanwaltschaft Siegen ermittelt, geht aber derzeit nicht von einer strafrechtlichen Relevanz der Taten aus, die zum Teil auch verjährt sein könnten.
Unklar ist, wann Kurschus von dem Verhalten des Mannes erfuhr. Die „Siegener Zeitung“ hatte von einem Gespräch Ende der 90er Jahre berichtet, in dem Kurschus informiert worden sei. Kurschus hatte dies vergangene Woche zurückgewiesen. In ihrem Statement am Montag ging sie darauf nicht ein. Sie sagte, sie habe allein die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen. Sie wünschte, sie wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die sie heute alarmieren würden.
Die 60-Jährige steht seit 2012 an der Spitze der westfälischen Kirche, vor zwei Jahren wurde sie zur Ratsvorsitzenden der EKD gewählt. Ende der Woche steht die Synode der westfälischen Landeskirche an, daher habe sie sich jetzt zu diesem Schritt entschieden, sagte sie. Den EKD-Ratsvorsitz übernimmt ab sofort kommissarisch die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, die bislang Kurschus' Stellvertreterin war. Sie sagte laut EKD-Mitteilung, Kurschus Schritt verdiene Hochachtung. Es bleibe die Verpflichtung, den Weg bei Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt konsequent weiterzugehen.
Die Sprecher des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der EKD erklärten, Kurschus' Entscheidung schütze die Arbeit des Forums vor weiteren Belastungen. Man setze die Arbeit mit großem Vertrauen in die Struktur des Beteiligungsforums in der bestehenden vertrauensvollen Art und Weise fort.
Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, sagte, er habe Kurschus nicht nur in der Ausübung des Amtes geschätzt, „sondern auch als theologische Denkerin mit einer prägenden geistlichen Kraft und mutigen Visionen für ihre Kirche“. Den persönlichen, engen Kontakt auf kurzen Wegen werde er ebenso vermissen.
Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, zollte Kurschus Respekt für diesen Schritt. „Annette Kurschus hat mit ihrem Rücktritt vom Amt klare Konsequenzen aus einer öffentlichen Debatte um ihre Integrität gezogen.“