Köln, Bielefeld (epd). Die wegen eines Missbrauchsverdachts in ihrem Umfeld unter Druck geratene Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, erhält Rückendeckung von ihrer westfälischen Landeskirche. Jetzt erhobene Rücktrittsforderungen halte er für „unangemessen“, erklärte Michael Bertrams, früherer NRW-Verfassungsgerichtspräsident und nebenamtliches Mitglied der westfälischen Kirchenleitung, in einem Beitrag für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ (online Samstag).
Er sei von der Glaubwürdigkeit und Integrität der EKD-Ratsvorsitzenden fest überzeugt, unterstrich Bertrams. Es sei ihm „ein großes Bedürfnis, Annette Kurschus in voller Übereinstimmung mit sämtlichen Mitgliedern der Kirchenleitung öffentlich meine und unser aller Solidarität zu bekunden.“ Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen will am Montag eine persönliche Erklärung abgeben. Sie werde sich darin zu dem Verdachtsfall sexualisierter Gewalt im Evangelischen Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein und insbesondere zu Vorwürfen gegen ihre Person äußern, „die in diesem Zusammenhang medial verbreitet wurden“, kündigte die Landeskirche an.
Vor einer Woche wurden staatsanwaltliche Ermittlungen gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des damaligen Kirchenkreises Siegen öffentlich, in dem Kurschus ab 1993 als Gemeindepfarrerin und später als Superintendentin tätig war. Er soll über Jahre hinweg junge Männer sexuell bedrängt haben. Im Raum steht die Frage, seit wann Kurschus von dem Missbrauchsverdacht weiß.
Die „Siegener Zeitung“ berichtete am Mittwoch, Kurschus sei bereits Ende der 90er Jahre in einem Gespräch mit mehreren Personen in ihrem Garten über die Vorwürfe sexueller Verfehlungen informiert worden. Zwei Zeugen hätten ihre Darstellungen schriftlich versichert. Vor der in Ulm tagenden EKD-Synode hatte Kurschus dies als „Andeutungen und Spekulationen“ zurückgewiesen. Sie wisse erst seit Anfang dieses Jahres durch eine Anzeige von den Missbrauchsvorwürfen.
Bertrams räumte ein, die Erklärung von Kurschus vor der Synode sei „angesichts einiger Ungereimtheiten kommunikativ unglücklich“ gewesen. Die sich aufdrängende Frage, ob es das „Gartengespräch“ gegeben habe oder nicht, bleibe unbeantwortet: „Kurschus schließt jedenfalls nicht aus, dass es das Gespräch im Garten mit der Information über missbräuchliches Verhalten gab. Damit ist breiter Raum für Spekulationen eröffnet.“
Von dem Medienbericht seit die 60-jährige Theologin jedoch „buchstäblich überrumpelt worden“, schrieb Bertrams, der von 1994 bis 2013 Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen war. „Jedenfalls hatte sie während der EKD-Synode in Ulm keine Zeit und Gelegenheit, bereits am selben Tag eine wohlüberlegte, in sich stimmige, plausible Erklärung zu Papier zu bringen und der Synode vorzutragen.“ Wer sei schon „in der Lage, sich aus dem Stand an Einzelheiten eines mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegenden Gesprächs im Garten zu erinnern?“
Zwar habe eine Berufung auf fehlende Erinnerung in der öffentlichen Wahrnehmung einen bitteren Beigeschmack, schrieb Bertrams, der seit 2012 der westfälischen Kirchenleitung angehört. „Das darf jedoch nicht dazu führen, derjenigen, die erklärt, sich bei bestem Willen nicht erinnern zu können, von vornherein und ausnahmslos die Glaubwürdigkeit abzusprechen.“
Nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe gegen den ehemaligen Kirchenmitarbeiter habe Kurschus die westfälische Kirchenleitung und den EKD-Rat darüber informiert, dass sie den Mann sehr gut kenne, erklärte Bertrams weiter. Er sei mit einer guten Freundin von ihr verheiratet. Es sei Kurschus „bekannt gewesen, dass der Beschuldigte gern auch die Nähe von Männern gesucht habe, also offenbar auch homosexuell veranlagt sei“. Dass der Beschuldigte „Missbrauch begangen, also sexuelle Gewalt ausgeübt haben solle“, habe sie sich aber zu keinem Zeitpunkt vorstellen können.