Ulm (epd). Die Entschädigungsverfahren für Betroffenen sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie sollen vereinheitlicht werden. Bei der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) legte die entsprechende Arbeitsgruppe des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt am Dienstag in Ulm einen Vorschlag für die sogenannten Anerkennungsverfahren vor. Die Anerkennung erlittenen Unrechts sei keine Frage, in der die oft zitierte evangelische Vielfalt gelebt werden könne, sagte dessen Sprecher auf Betroffenenseite, Detlev Zander.
Für die Betroffenen sei es wichtig, dass nun tatsächlich Einheitlichkeit zwischen den Landeskirchen und ebenso ein verbindlicher Einbezug der Landesverbände der Diakonie gelinge. Die bisherigen Fallzahlen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche zeigen, dass ein großer Teil der Betroffenen in Einrichtungen der Diakonie zum Opfer geworden ist. Laut dem Bericht der Arbeitsgruppe gibt es trotz einer Musterordnung immer noch Unterschiede zwischen den einzelnen Verfahren der Landeskirchen.
Die Gruppe plädiert nun für eine EKD-weite Norm und fordert Anerkennungskommissionen, die mehrheitlich mit kirchenexternem Personal besetzt sind. Zur Höhe möglicher Entschädigungszahlungen äußerte sich die Arbeitsgruppe nicht. Dazu stünden noch weitere Diskussionen an, heißt es dazu im Bericht. Die pfälzische Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst erläuterte, nach den finalen Diskussionen im Beteiligungsforum müsse der Vorschlag in den Landeskirchen beraten und beschlossen werden. Wie schnell es zu einheitlichen Verfahren kommen kann, ist also noch offen.
Das Thema Missbrauch beschäftigte die Kirchenvertreter auch noch in ungeplanter Weise. Vor wenigen Tagen waren Missbrauchsvorwürfe gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des Evangelischen Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein öffentlich geworden, wo die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus Gemeindepfarrerin und später Superintendentin war. Die Staatsanwaltschaft Siegen ermittelt, sieht aber bislang keine strafrechtliche Relevanz des Falles, der viele Jahre zurückliege. Wie die „Siegener Zeitung“ am Dienstag online berichtete, liegt ihr die Aussage eines Mannes vor, der bereits Ende der 90er Jahre kirchliche Amtsträger in Siegen über die Vorwürfe gegen den Kirchenmitarbeiter informiert haben will. Eine Gesprächspartnerin sei Kurschus als damalige Pfarrerin gewesen.
Kurschus verwahrte sich gegen die Vorwürfe. In einer Erklärung vor der Synode sprach sie von „Andeutungen“ und „Spekulationen“, die sie zurückweise. In einem schriftlichen Statement zuvor hieß es, in Gesprächen vor vielen Jahren sei zwar die sexuelle Orientierung eines inzwischen des Missbrauchs beschuldigten Kirchenmitarbeiters, „aber zu keiner Zeit der Tatbestand sexualisierter Gewalt thematisiert worden“. Kurschus bestätigte vor dem Kirchenparlament, dass die den Beschuldigten jahrzehntelang und gut kenne, erst zu Jahresanfang aber von den Vorwürfen erfahren habe. Sie sei wütend und enttäuscht, sagte sie und kündigte eine externe und unabhängige Aufklärung des Falls an.
Die Synode applaudierte der Ratsvorsitzenden für ihre Erklärung. Das Beteiligtenforum wollte den Fall zuvor nicht kommentieren. Zuständig seien die Strafermittlungsbehörden und die Landeskirche, sagte Kirchenpräsidentin Wüst.
Die EKD-Synode hatte sich am Dienstag zudem mit der frisch veröffentlichten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung beschäftigt. Demnach wenden sich die Deutschen schneller von den Kirchen ab als bislang erwartet. Wenn sich der aktuelle Trend der Austritte fortsetzt, könnten bereits in den 2040er Jahren nur noch halb so viele Menschen einer Kirche angehören wie noch im Jahr 2017. Bisherige Prognosen hatten diese Entwicklung für das Jahr 2060 vorhergesehen.