Als in einer Vorrunde von "Germany’s Next Topmodel" 2009 der Publikumsliebling Ira ausgeschieden sei, da habe der Fernsehsender bei ihrem Abschied "O, Haupt voll Blut und Wunden" eingespielt. Das wusste am Wochenende Harald Schroeter-Wittke in Bad Berleburg zu berichten. In Kooperation mit der Evangelischen Kirche von Westfalen hatte das Reformierte Gemeindeforum Südwestfalen zu einer Diskussionsveranstaltung unter der Überschrift "Hochkultur oder Popkultur?" eingeladen.
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Schroeter-Wittke beurteilte diesen Akt des Unterschichtenfernsehens nicht als unfreundlich, vielmehr konnte der Professor für Evangelische Religionspädagogik und Kirchengeschichte in Paderborn dem Gedanken von Heidi Klum als Teil des Jüngsten Gerichtes und Ira als Jesus-gleicher Figur doch einiges abgewinnen. Ganz anders die Position von Andreas Marti. Auch er ein passionierter Musikliebhaber und Professor - in seinem Fall für Theoretische und Praktische Kirchenmusik in Bern -, der eigentlich ebenfalls, wie Harald Schroeter-Wittke, von seiner Ehefrau zum Heidi-Klum-Gucken gezwungen wird. Er habe diese Szene mit "O, Haupt voll Blut und Wunden" nicht gesehen und schien in Bad Berleburg dafür mehr als dankbar zu sein.
Die Rollen in dieser Diskussion waren verteilt, fehlte nur noch der Schiedsrichter zwischen den beiden – sehr disziplinierten - Streithähnen. Das war Vicco von Bülow. Diese Veranstaltung im Jahr der Kirchenmusik war die Idee des Landeskirchenrates für Theologie, Gottesdienst, Kirchenmusik in der Evangelischen Kirche von Westfalen gewesen. Entstanden war sie, als er das vor einem Jahr erschienene Buch "Reformierte Liturgik – kontrovers" las. Hierin fanden sich nämlich zwei getrennte Plädoyers der Diskutanten, entweder für die Hoch- oder für die Popkultur, dazu noch jeweils eine weitere Riposte.
Der Wortakrobat beim Balancieren
Im Buch hatte Harald Schroeter-Wittke das letzte Wort, in Bad Berleburg das erste. Kurzweilig trug der Wortakrobat mit ausgeprägtem Hang zum wagemutigen Balancieren - auch gern am plakativen Abgrund der bloßen Provokation - große Teile seines Aufsatzes vor. Er beleuchtete die Anfänge der Popkultur in Deutschland mit der illustrierten Familienzeitschrift "Die Gartenlaube" seit Mitte der 19. Jahrhunderts, betonte das Charakteristikum der ästhetischen Zweideutigkeit im beständigen Hin und Her zwischen Ernst und Unernst und sang das Hohelied auf die Unterhaltung, die nährt, die genießen lässt und die Geselligkeit belebt. Auch wenn er wisse, dass Unterhaltung als theologisch fragwürdig gehandelt werde: "Bis heute hält sich das Vorurteil des Johannes Chrysostomos, Jesus habe nicht gelacht, in dessen Gefolge die meisten Christen auch wenig zu lachen hatten."
Dabei habe es doch schon vor fast 200 Jahren die popkulturell massenwirksame Klarstellung gegeben: Stille Nacht, Heilige Nacht, Gottes Sohn, o wie lacht Lieb’ aus deinem göttlichen Mund.“ Nochmal zur Unterhaltung: „Gottesdienst als gute Unterhaltung bedeutet daher, den Menschen in ihren Geschichten mit göttlicher Geschichte so Unterhalt zu gewähren, dass sie vorübergehend Halt gewinnen.“ Bei Popkultur gehe es eben nicht um Erlösung, sondern eher um Erleichterung.
Andreas Marti fasste sich in seiner Entgegnung kürzer, mochte nicht seinen Aufsatz vorlesen. Schnell wurde deutlich, dass es ihm als altgedientem Organisten, Cembalisten und Theologen nicht darum ging, einen Alleinvertretungsanspruch der Hochkultur im kirchlichen Umfeld einzufordern. Der laufende Verdrängungsprozess zu Ungunsten der Hochkultur beunruhigte ihn. Er erinnerte an ein Dekret des Konzils von Trient, in dem es 1562 hieß: "Der Gesang soll so erfolgen, dass er nicht nur leerer Ohrenschmaus ist, sondern so, dass die Worte von jedermann klar verstanden werden können und die Herzen der Zuhörer daher von Sehnsucht nach himmlischer Harmonie erfüllt werden in der Betrachtung der Freuden der Seligen."
Und gerade bei Kasualien ermunterte Andreas Marti zu wohl durchdachtem Handeln – notfalls mit Anleitung. Wenn sich etwa ein Paar für die kirchliche Trauung „Memory“ aus dem Musical „Cats“ wünsche, dann frage er nach, ob sie wirklich das Erinnerungslied einer "abgetakelten Katzennutte" zur Hochzeit hören wollten. Für Andreas Marti stand fest: "Den Rahmen setzen wir"- und deshalb finde bei ihm der Kircheneinzug auch immer mit Orgel statt.
Nicht Luther, sondern die Reformierten
Während der weiteren offenen Diskussion, in die auch das rund 60-köpfige Publikum einbezogen wurde, gab es passenderweise bei der Veranstaltung des Reformierten Gemeindeforums den Hinweis, dass es nicht etwa Luther, sondern doch gerade die reformierten Reformatoren gewesen seien, die durch mehrstimmige Lieder und Instrumente in der Kirche eine allzu große Ablenkung der Gottesdienstbesucher befürchtet hätten. Harald Schroeder-Wittke hatte auch hier die passende Antwort. Er halte es mit dem reformierten Theologen Karl Barth, der gesagt habe, dass die Musik den Teufel vertreibe. Veranstaltet wird das Reformierte Gemeindeforum zweimal im Jahr in den beiden südwestfälischen evangelischen Kirchenkreisen Siegen und Wittgenstein, wo das reformierte Erbe noch sehr gepflegt wird.
Nachdem man ein bisschen ergebnisarm über das Wort der "Oberflächlichkeit" – eine schnell zündende Nebelrakete von Schroeter-Wittke – gestritten hatte, wurden weitere Begriffe wie "Banalität" und "Angemessenheit" in die Diskussion eingebracht. Aber am Ende war man sich einig, dass auch bei der Musik der Prüfstein gelte, den Luther formuliert habe: Ees gehe um das, "was Christum treibet". Und diese Faustregel erfordert Nachdenken. Die Entscheidung zwischen E- und U-Musik ist keine zwischen Gut und Böse, keine zwischen Schwarz und Weiß. Für die immer wieder neu zu treffende Entscheidung gibt es keinen Automatismus, anders als bei YouTube im Internet: Tippt man hier "Germany’s Next Topmodel" und "Haupt voll Blut und Wunden" gleichzeitig ein, dann bekommt man als erstes ein Filmchen mit Tipps von einer Hautärztin angeboten.