Hildesheim (epd). Der Soziologe Michael Corsten sieht in den linken Szenen eine zunehmende Verschiebung der Protestformen. „An die Stelle vorwiegend symbolischen Protests wie angemeldete Kundgebungen treten zunehmend handfestere Aktionen, die unmittelbare Wirksamkeit im öffentlichen Raum beanspruchen“, sagte der Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Die Protestierenden werden zu Aktivisten, sie greifen gewissermaßen zu ziviler Selbsthilfe, weil sie gesellschaftliches und staatliches Handeln als unzureichend erleben.“
Innerhalb dieses Spektrums stünden die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ in der Tradition zivilen Ungehorsams und seien trotz einzelner Rechtsverletzungen als vergleichsweise harmlos einzustufen. Demgegenüber überschritten die Angriffe der linksradikalen Gruppe um die Leipzigerin Lina E. auf Neonazis „nicht nur juristisch, sondern auch ethisch rote Linien“.
Corsten warnte davor, die linksextremen Ausschreitungen vom vergangenen Wochenende in Leipzig zum Anlass zu nehmen, um generell einen härteren Kurs gegen linke Bewegungen zu fahren. „Dass derzeit vorwiegend die Proteste linker Gruppen negative Schlagzeilen bekommen, darf nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass das linke Spektrum grundsätzlich radikaler wird.“
Ob linke Proteste zukünftig an Drastik gewinnen, hänge auch davon ab, wie isoliert entsprechende Gruppierungen agierten, unterstrich der Soziologe. „Die RAF war das Extrembeispiel für eine hochgradig geschlossene, fast sektenartige Gruppe, in der sich Überzeugungen bis zum Fanatismus und Protest bis zu blanker Gewalt steigern konnten“, erläuterte Corsten. Die Klimaschutzbewegung sei hingegen weit vernetzt und von größerer Diversität geprägt. „Unter diesen Voraussetzungen besteht gewissermaßen der Zwang, für Aktionen Konsens zu finden, die von allen als legitim erachtet und getragen werden können. Das schützt vor Radikalisierung.“