Göttingen (epd). Der Göttinger Theologieprofessor Jan Hermelink führt den jüngsten Anstieg der Kirchenaustritte vor allem auf die aktuelle wirtschaftliche und politische Krisenstimmung zurück. „Viele Menschen haben weniger Geld und schauen, wo sie noch sparen können“, sagte der Praktische Theologe dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zudem sei das politische Sicherheitsgefühl vieler Menschen erschüttert. „Auch deshalb prüfen viele, wo sie sich wenigstens finanziell etwas Luft verschaffen können, selbst wenn sie ökonomisch nicht direkt unter Druck stehen.“
Am Dienstag hatte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Mitgliederstatistik für 2022 veröffentlicht. Demnach traten im vergangenen Jahr bundesweit knapp 36 Prozent mehr Menschen aus der Kirche aus als 2021. Zu diesem Anstieg hat aus Hermelinks Sicht nicht zuletzt auch die Berichterstattung über die Missbrauchsskandale und deren schleppende Aufarbeitung vor allem in der katholischen Kirche beigetragen.
Indes spiegelten die neuesten Zahlen auch einen größeren Trend, der sich schon seit vielen Jahren abzeichne. „Kirchenmitgliedschaft ist bei immer weniger Menschen etwas Selbstverständliches“, erläuterte der evangelische Theologe. Stattdessen werde sie zunehmend als Ausdruck einer lebendigen Beziehung zur Kirche gesehen, die auf persönlicher Erfahrung beruht.
Früher sei es auf diese persönliche Beziehung zur Kirche weniger angekommen, „weil man eher aus familiärer Tradition in der Kirche war, ohne das selbst genauer begründen zu können, oder weil das im Dorf oder in der Nachbarschaft einfach dazu gehörte“, sagte Hermelink. Heute hingegen neigten Kirchenmitglieder mehr dazu, sich zu fragen, „warum einem die Bindung an die Kirche etwas wert ist - oder eben nicht mehr zum eigenen Leben dazu gehört“.