Göttingen (epd). Der Soziologe Berthold Vogel warnt vor einer Vereinnahmung krisenbedingter Abstiegsängste durch Populisten. „Es wäre brisant, wenn es den Querdenkern gelänge, die soziale Frage zu okkupieren. Das treibt die Polarisierung voran, zerstört den Zusammenhalt und könnte mittelfristig demokratiegefährdende Potenziale haben“, sagte der Leiter des Soziologischen Forschungsinstituts der Georg-August-Universität Göttingen dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Politik müsse „schneller sein als diejenigen, die die Sorgen der Menschen vor ihren autoritären Karren spannen wollen“.
Daher sei es schon jetzt - vor einem von einigen Experten prognostizierten „heißen Protest-Herbst“ - entscheidend, solche gesellschaftlichen Gruppen mit gezielten Unterstützungsmaßnahmen zu schützen, die aufgrund ihrer prekären Arbeits- und Lebenssituation unter enormen finanziellen Druck geraten. „Auf der anderen Seite muss bei denen politisch für Verzicht geworben werden, die Einbußen verkraften können“, sagte Vogel.
Da Verzicht und Wohlstandseinbußen bis weit in die Mittelschicht drohten, sei das Potenzial für Proteste hoch, unterstrich der Soziologieprofessor. Es hänge maßgeblich davon ab, ob die Menschen der Politik zutrauten, die Verteilungsfrage wirksam zu bearbeiten. Ansonsten könne eine möglicherweise populistisch grundierte Protestwelle entstehen. Vogel betonte, die Regierung sei schon jetzt aktiv. „Sie handelt weitgehend umsichtig und das ist sehr wichtig.“
Zugleich warnte er davor, dass soziale Ängste von Kräften instrumentalisiert werden könnten, die bereits im Zuge der Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen Misstrauen in den Staat und seine Organe schüren wollten. „Diese Menschen haben nach Corona einen neuen Anlass gefunden, den Hass auf das 'System' und die 'Eliten' abzuladen.“ Zudem sei das Rekrutierungsfeld für Proteste im Vergleich zur Corona-Zeit am rechten wie linken Rand der Gesellschaft eher gewachsen.
Zu den bestehenden Verschwörungsmythen kämen durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch „Russland-Kitsch und Anti-Amerikanismus“. Dadurch werde es noch schwieriger als bisher, die Querdenker-Proteste eindeutig im politischen Spektrum zu verorten, sagte Vogel.