Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert der Diakonie-Präsident Lilie die dramatischen Folgen von Einsamkeit, den Wert lebendiger Kontakte und warum Sudoku keine erfolgversprechende Strategie gegen Einsamkeit ist. In seinem Blog berichtet er über die Sommerreise.
epd: Herr Lilie, das Thema Einsamkeit steht im Mittelpunkt Ihrer Sommerreise. Warum Einsamkeit?
Ulrich Lilie: In der Pandemie mit Lockdown und Kontaktbeschränkungen haben viele Menschen Erfahrungen mit Einsamkeit gemacht, die sich bislang für immun hielten - quer durch alle gesellschaftlichen Schichten.
Es gibt Menschen, die das Alleinsein suchen und als Bereicherung empfinden. Aber die Zahl derjenigen, die ungewollt in Isolation und Einsamkeit stürzen, wächst massiv. Woran liegt das?
Lilie: Ja, in nahezu allen Altersgruppen gibt es immer mehr Menschen, die alleine leben. Die Bindekraft von gemeinschaftsstiftenden Institutionen lässt nach. Nicht nur Kirchengemeinden, sondern auch Parteien, Gewerkschaften oder Vereine haben Schwierigkeiten, Menschen zu halten. Es gibt einen Trend zur Individualisierung in unserer medialen Massengesellschaft, der nicht rückgängig gemacht werden kann. Das ist durchaus gut, weil es dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, viel auszuprobieren.
Auf der anderen Seite ist der Mensch ein soziales Wesen und braucht Zugehörigkeit und Gemeinschaft wie die Luft zum Atmen. Wir brauchen nährende und schützende Beziehungen, um leben zu können.
Wenn die Gemeinschaft so wichtig ist, was sind die Folgen ungewollter Einsamkeit?
Lilie: Wir wissen aus der Stress- und Gehirnforschung, dass unfreiwilliges Alleinsein als extremer Stress erlebt wird und auf die gleichen Zentren wirkt wie das Schmerzempfinden. Einsamkeit ist für die Gesundheit ein genauso starker Risikofaktor wie etwa Fettleibigkeit oder dauerhaftes Rauchen. Gleichzeitig ist es ein erheblicher Risikofaktor in der psychischen Entwicklung. Wer alleine lebt, erkrankt viel eher an einer Depression oder an Schizophrenie. Bei älteren Leuten steigt die Gefahr für Demenzerkrankungen. Manche sagen: "Ich mach’ Sudoku." Doch das ist eben nicht das Richtige. Es geht vielmehr darum, lebendige Kontakte mit anderen zu haben, sich auszutauschen und etwas mit anderen zu unternehmen.
2018 wurde in Großbritannien ein Einsamkeitsministerium gegründet. Können wir davon lernen, brauchen wir das auch?
Lilie: Das Thema Einsamkeit sollte als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe ressortübergreifend und über ein breites zivilgesellschaftliches Netzwerk gut koordiniert angepackt werden. Das Wohnungsbauministerium ist dabei genauso gefragt wie das Sport-, Innen-, Familien- oder Gesundheitsministerium. Für eine wirksame Strategie müssen wir alle aus der Tortenstück-Logik herausfinden. Wir brauchen eine abgestimmte Strategie und einen langen Atem. Es hilft weder ein Beauftragter gegen Einsamkeit noch hilft es, Einsamkeit pauschal zur Krankheit der Moderne zu erklären und von einer neuen Seuche zu sprechen. Es gibt bereits viele interessante Initiativen und Ideen. Die gilt es jetzt zu beforschen, zu fördern und gut zu vernetzen.
Experten sagen, Einsamkeit muss nicht zwangsläufig und aus heiterem Himmel entstehen, sondern baut sich nach und nach auf. Wer darin geübt ist, Kontakte aufzubauen, könnte besser geschützt sein …
Lilie: Aber viele Menschen haben nach einem langen Tag schlicht nicht mehr die Kraft, ihre eigenen Sozialkontakte zu pflegen - wie beispielsweise oft Alleinerziehende, die sich um ihre Kinder und um die Arbeit kümmern. Und es gibt auch noch andere Einflussfaktoren. So deutet vieles darauf hin, dass Langzeitarbeitslosigkeit, Einsamkeit und ein Krankheitsrisiko eng zusammenhängen.
Wie lässt sich gegensteuern?
Lilie: Wir sollten alle Betroffenen ermutigen, ihre Einsamkeit zu thematisieren. Wohlfahrtsverbände wie die Diakonie, die Telefonseelsorge, Vereine, Kirchen oder kommunale Einrichtungen können hier viel tun. So gibt es auch in Bremen gute Projekte. Das Programm "1.000 Bänke für Bremen" ist ein schönes Beispiel. Dabei geht es um Ruhebänke, die älteren Menschen durch ihre besondere Sitzhöhe sowie Armlehnen gute Gelegenheiten für eine Pause bieten. So können sie sich länger draußen aufhalten, sich ausruhen, auf alte Bekannte und neue Personen treffen. Kurz: Es geht immer darum, Begegnungen und Gespräche zu ermöglichen. Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen können dabei eine wichtige Rolle spielen.
Haben Sie konkrete Vorschläge?
Lilie: Es ist sinnvoll und wichtig, viele Akteurinnen und Akteure aus der Zivilgesellschaft zusammenzubringen. Nachbarschaftscafés, Patenschaftsmodelle oder Besuchsdienste sind hilfreich. Aber es geht auch um eine intelligente Stadtplanung und Quartiersgestaltung. Wo Menschen leben und wohnen, muss es lebendige, grüne und attraktive Begegnungsorte geben, an denen Menschen etwas zusammen unternehmen können.
Warum bauen wir keine öffentlichen Freibäder in die Citys, in denen heute oft leere Kaufhausruinen stehen? Wir könnten Volkshochschulen oder Stadtbibliotheken zu attraktiven Aufenthaltsorten weiterentwickeln. Es geht also auch um eine umsichtige Entwicklung unserer Städte und Dörfer. Diakonie und Kirche verstehe ich dabei als gute Partner, weil sie schon über viele solcher Orte und Netzwerke verfügen.
Info
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie hat zusammen mit dem Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschand (EKD), Johann Hinrich Claussen, ein Buch zum Thema geschrieben: "Für sich sein - ein Atlas der Einsamkeiten", Verlag C.H. Beck München 2021, 248 Seiten, 18 Euro