In Umfragen sagen 28 Prozent der Deutschen, sie lebten in einer Scheindemokratie. Das ist eine der Zahlen, die immer wieder bei der Tagung "Zukunft der Demokratie" im Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing genannt wurde. Die andere: Auf der Welt sind derzeit einer Untersuchung zufolge von 137 Ländern erstmals die Autokratien in der Mehrheit. Nur 67 Länder haben demnach eine Demokratie als Staatsform gewählt, 70 gelten als autokratisch.
Davon spricht auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Tutzing. Angesichts des Ukraine-Krieges und seiner Folgen müsse sich jetzt die europäische und internationale Friedensordnung beweisen. Aber er glaube daran, dass es ein humanitäres Bedürfnis sei, in einer Demokratie leben zu wollen. "Die Zukunft unserer Demokratie hängt von der Zukunft der Demokratien in der Welt ab", stellt er fest.
"Jede Demokratie ist ein Unikat und nicht jede Demokratie funktioniert reibungslos", räumt der Bundeskanzler ein, aber Länder, die sich auf die Grundlage der Demokratie stellten, eröffneten Spielräume für Oppositionelle, die auf Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit verweisen könnten. In Demokratien könnten die Machthaber nicht auf Dauer über die Wünsche der Menschen hinweggehen.
Die Demokratien dieser Welt seien gefordert, erklärte die Präsidentin des Deutschen Bundestags, Bärbel Bas (SPD). Um die Probleme des Planeten in den Griff zu bekommen, brauche es langfristige Konzepte, schmerzhafte Anpassungen und grenzüberschreitenden Wandel.
Dafür müssten die Menschen von einer Politik überzeugt werden, die über die aktuelle Krise hinausdenke und ihnen deutlich mache, dass sie Zumutungen auf sich nehmen müssten. "Daran entscheidet sich, ob unsere Zivilisation bestehen kann. Um nicht weniger geht es", sagte Bas.
Sie machte sich für Bürgerräte stark. Sie könnten helfen, "strukturelle Verkrustungen des politischen Betriebs aufzubrechen". Solche Bürgerräte sollten der Demokratie zu besseren Entscheidungen verhelfen, sagt die Bundestagspräsidentin. Bas räumte zwar ein, dass sich eher besser gebildete und einkommensstärkere oder gut integrierte Bürgerinnen und Bürger an solchen Räten beteiligen würden. Aber es müssten Wege gefunden werden, mehr Menschen die Teilhabe zu ermöglichen.
Der Berliner Professor Michael Zürn kritisierte, dass die Parlamente Bildungsparlamente geworden seien, die ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr repräsentierten. Zugleich hätten die Parlamente ihre Entscheidungsmacht an Zentralbanken, Verfassungsgerichte, Experten oder internationale Institutionen verloren. Das führe dazu, dass die Stimme "des kleinen Bürgers oder der kleinen Bürgerin in der kleinen Wahlkabine" an Bedeutung verloren habe.
Schon vorhandene Beteiligungsmöglichkeiten hätten aber Bürgerinnen und Bürger bisher oft nicht genutzt, sagte der Politikwissenschaftler Claus Leggewie (Gießen) und rief zu "mehr Courage für die Demokratie" auf. Sein Konzept der Beteiligung heißt "Zukunftsräte". In solche moderierten und auch finanziell ausgestatteten Gremien, die sich beispielsweise über Atommüllendlager oder Stromtrassen austauschen sollen, sollten durch Losverfahren junge Menschen, sozial schwache Menschen oder Menschen mit Migrationserfahrung hinzugezogen werden.
Bürgerräte oder Zukunftsräte müssten darüber debattieren, was das Gemeinwohl sei, sagte die Politikwissenschaftlerin und SPD-Politikerin Gesine Schwan. "Gemeinwohl fällt nicht vom Himmel", sagte sie.