Zwischen 1945 und 2020 sind nach Untersuchungen von Historikern mindestens 600 Kinder im Bistum Münster sexuell missbraucht worden. Sie seien zwischen zehn und 14 Jahre alt gewesen, ein Viertel von ihnen seien Mädchen, erklärte das fünfköpfige Wissenschaftsteam um die Professoren Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht am Montag bei der Vorstellung der Studie.
Über die Tätigkeiten als Messdiener oder auf Ferienlagern sei es zur Kontaktanbahnung gekommen. Die Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch" forderte, dass Kirche nicht mehr selbst für die Aufklärung sexuellen Missbrauchs verantwortlich sein sollte.
Die Studie geht von etwa 196 beschuldigten Klerikern aus. Die Dunkelziffer liege wahrscheinlich bis zu fünfmal höher, hieß es. Konkret handele es sich um 183 Priester, einen ständigen Diakon und zwölf Brüder einer dem Bischof lange Zeit unterstellten Ordensgemeinschaft. Viele seien keine Einzel-, sondern Wiederholungstäter gewesen.
Kirche wird zur Täterorganisation
Ein kollektives Versagen der Personalverantwortlichen habe den Missbrauch ermöglicht, erklärte Studienleiter Großbölting, der mittlerweile an der Universität Hamburg lehrt. Sie hätten sich weniger als Vorgesetzte, sondern vielmehr als Seelsorger und Mitbrüder der Täter gesehen.
In der Nachkriegszeit sei es den Bischöfen von Münster wie Joseph Höffner (Amtszeit: 1962-1969), Heinrich Tenhumberg (1969-1979) und Reinhard Lettmann (1980-2008) in der Regel darum gegangen, Schaden von der Institution Kirche abzuwenden, statt sich um die Opfer zu kümmern, die sich oft gar nicht oder erst als Erwachsene trauten über den Missbrauch zu berichten.
Historiker spricht von "desaströsen Zuständen"
Über die allermeisten Fälle seien die Bischöfe informiert gewesen und hätten auch gewusst, dass es sich nicht nur um Einzelfälle gehandelt habe. Bei etwa 90 Prozent der Beschuldigten sei es nie zu strafrechtlichen Konsequenzen gekommen. Die Taten seien systematisch vertuscht, die Täter in der Regel nur versetzt worden. Großbölting sprach von "desaströsen Zuständen" im Bistum Münster. Vieles von dem, was passiert sei, sei unter juristischen Aspekten als Strafvereitelung im Amt einzuschätzen. Mit weiteren staatsanwaltlichen Ermittlungen durch die Studie rechne er gleichwohl nicht.
Wegen des Führungsversagens der Bischofsleitungen sei es insbesondere Intensiv- und Mehrfach-Tätern möglich gewesen, über viele Jahre und zum Teil sogar über Jahrzehnte hinweg weiter Missbrauch zu begehen. Vielfach hätten auch die Gläubigen in den Gemeinden selbst weggeschaut und zur Vertuschung beigetragen. Dass es Missbrauchstäter und "Grabbelpastoren" in den Gemeinden gab, galt laut Studie als offenes Geheimnis.
Münsteraner Bischof übernimmt Verantwortung
Die Zusammenarbeit mit dem Bistum Münster, die die Studie in Auftrag gegeben hatte, bezeichnete das unabhängige Forscherteam als "sehr gut". Aus den Forschungsergebnissen sind die Studie und eine einordnende Publikation entstanden. Auch dem aktuellen Münsteraner Bischof Felix Genn wirft die Studie besonders in den ersten Jahren einen zu "laxen Umgang" mit dem Thema Missbrauch vor.
Er selbst kenne die Studienergebnisse noch nicht, erklärte der Münsteraner Bischof. Am Abend wollte er an der öffentlichen Informationsveranstaltung der Universität teilnehmen, die Ergebnisse danach lesen und sich am Freitag äußern. "Ich übernehme selbstverständlich die Verantwortung für die Fehler, die ich selbst im Umgang mit sexuellem Missbrauch gemacht habe", betonte er.
"Ich war und bin Teil des kirchlichen Systems, das sexuellen Missbrauch möglich gemacht hat." Es müsse "eine wirkliche Umkehr" geben. "Das ist für mich eine Verpflichtung, an der ich mich messen lassen möchte", sagte er.
Der Sprecher der Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, erklärte: "Die Aufarbeitung der sexuellen Gewalt gegen Kinder muss der Kirche aus der Hand genommen werden." Es könne nicht sein, dass Aufklärung davon abhänge, "dass die Täterorganisation freiwillig Gutachten in Auftrag gibt". In Münster scheine dies zwar gelungen zu sein, aber viele Bistümer hätten auch zwölf Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchskandals noch nicht einmal Gutachten beauftragt.
"Klar widerlegt wurde die kirchliche Schutzbehauptung, man habe vorher nur von Einzelfällen gewusst", betonte er. Die katholische Kirche müsse "endlich angemessenen Schadensersatz leisten". Bisher spiegelten die ausgezahlten Gelder "bei Weitem" nicht die Schuld der Organisation wider.