Herr Stahl, Gewalt ist ein weit verbreitetes Phänomen. Sprechen wir gesellschaftlich und kirchlich ausreichend über dieses Phänomen?
Andreas Stahl: Hier ist die Gesellschaft den Kirchen meinem Eindruck nach ein Stück voraus. In den letzten Jahren haben wir auch in der evangelischen Kirche wieder angefangen, verstärkt über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Dabei ist aber vor allem Gewalt innerhalb kirchlicher Kontexte im Blick. Das ist als Grundlage sehr wichtig. Allerdings geht es bei Gewalt um ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es wäre wünschenswert, wenn diese Perspektive stärker hinzugenommen würde. Gewalt ist eines unserer gravierendsten sozialen Probleme. Natürlich ist die Wahrnehmung der eigenen direkten Verantwortung die Grundlage. Aber auch die gesamtgesellschaftliche Perspektive und die kirchlichen Verstrickungen dort hinein sind wichtig. Denn das Thema betrifft auf verschiedene Weise sehr viele Menschen, auch in den Kirchen.
Was lässt sich unter "Gewalt" verstehen?
Stahl: Es gibt hier verschiedene Definitionen von denen viele hilfreich sind, weil sie unterschiedliche Aspekte beleuchten. Eine recht allgemeine kann sein, dass man Gewalt versteht als eine schädigende Handlung in physischer, psychischer oder sexueller Form unter Ausnutzung bestehender Machtverhältnisse.
Noch immer lässt sich nicht ganz erfassen, wie hoch die Zahlen von Gewalt im gesellschaftlichen, insbesondere im familiären Kontext, sind. Welche Zahlen liegen Ihnen vor?
Stahl: Dazu gibt es wissenschaftliche Studien. Bei konkreten Zahlen kommt es aber stark auf die Art der Gewalt an, die erfasst werden soll, wie diese genau definiert wird und wer befragt wird. Beim Kindesmissbrauch kommt eine für Deutschland in verschiedener Hinsicht repräsentative Studie auf eine Quote von 4,4 Prozent. Das ist ungefähr ein Kind in jeder Schulklasse.
"Traumafolgen lassen sich als Überlebensmechanismen verstehen"
Sie haben kürzlich ein Buch zum Thema veröffentlicht. Wie kam es dazu?
Stahl: Ich finde das Thema wichtig. Ich habe meine Doktorarbeit dazu geschrieben und wollte den Zugang zu den Inhalten zugänglicher gestalten. Deshalb das allgemeinverständliche Buch. Gegenwärtig arbeite ich mit zwei Mitstreiterinnen an einem Projekt, in dem wir die Geschichten von Menschen sammeln wollen, die in der evangelischen Kirche sexuellen Missbrauch erlebt haben.
Gewalt hinterlässt Spuren, tiefe Wunden. Gewalt traumatisiert. Was ist unter einem "Trauma" zu verstehen und was sind die Folgen?
Stahl: Das ist eine große Frage zu der sich sehr viel sagen ließe. Das Wort "Trauma" kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie "Verletzung" oder "Wunde". Im Laufe der jüngeren Geschichte wurde das Wort dabei immer stärker auch für psychische Wunden verwendet. Diese entstehen durch Extremerlebnisse, welche die psychische Verarbeitungsfähigkeit überfordern. In Folge geht das schreckliche Ereignis nicht einfach vorüber, sondern kehrt im Erleben der Betroffenen immer wieder. Ein großer Teil von Traumafolgen lässt sich verstehen als Überlebensmechanismen, die auch anhalten, wenn die Gefahr vorüber ist.
"Christlicher Glaube kann ein konstruktiver Faktor sein"
In Ihrem Buch beleuchten Sie Spuren von Gewalt in biblischen Texten und in kirchlicher Tradition – worauf sind Sie gestoßen?
Stahl: Dass traumatische Erlebnisse zum Erfahrungshintergrund biblischer Texte gehören. Dass sie hilfreichen und weniger hilfreichen Umgang mit ihnen dokumentieren. Dass die Auseinandersetzung mit Traumata dem christlichen Glauben ins Stammbuch geschrieben ist. Und dass sich im Spannungsfeld von Trauma und Theologie sehr viel Wichtiges entdecken lässt.
Sie entwickeln eine "traumasensible Theologie" – welche Perspektiven sind Ihnen wichtig?
Stahl: Bei einer traumasensiblen Theologie geht es darum, möglichst aus der Perspektive Betroffener auf die Themenbestände christlicher Theologie zu blicken. Ich glaube diese Perspektive ist etwas genuin Christliches und aus ihr erschließt sich viel. Sie beleuchtet die Schattenseiten christlicher Vergebungsrhetorik, die Frage nach tragfähigen Gottesbildern, die Ambivalenzen von Sinnzuschreibungen im Leid, bestimmte problematische Traditionsbestände und wie christlicher Glaube ein konstruktiver Faktor im Umgang mit Traumata sein kann.
"Die unmittelbare Gewalt ist vorüber, aber ihre Spuren sind da"
In der Mitte des christlichen Glaubens, darauf nehmen Sie im Buch mehrfach Bezug, steht Jesus. Er selbst ist Opfer von Gewalt geworden. Gott selbst erfährt Leid und Schmerz. Von der Auferstehung her haben Leid und Schmerz nicht das letzte Wort. Beides gehört zusammen. Sie schreiben: "Wichtiger ist es, für die Zwischenräume sensibel zu sein. Denn auch wenn ein Trauma als Ereignis vorüber ist, bleibt es doch auf verschiedene Weise präsent." Wie lassen sich die "Zwischenräume" beschreiben?
Stahl: Das Zitat stammt aus einem Kontext, in dem ich über die Bedeutung des Karsamstag nachdenke. Denn der Karsamstag beschreibt etwas von dem, was viele Betroffene erleben. Die unmittelbare Gewalt ist zwar vorüber, aber ihre Spuren sind da und die Überwindung des Leidens ist nicht oder nur fragmentarisch erlebbar. Theologisch markiert der Karsamstag eben einen solchen Zwischenraum.
Sie sind als Traumafachberater tätig. Welche Erfahrungen machen Sie in diesem Bereich?
Stahl: Es handelt sich nicht um einen eigenen Tätigkeitsbereich in dem Sinne. Ich habe die Ausbildung als Ergänzung zu meiner seelsorglichen und wissenschaftlichen Arbeit gemacht. Sozusagen als eine praktische und methodische Qualifikation im Umgang mit Traumata. Und ich mache die Erfahrung, dass das auch in der Gemeindeseelsorge sehr hilfreich ist.
"Biblische Texte können Sprachhilfen sein"
Welche Schritte können Gemeinden und kirchliche Einrichtungen gehen, um eine traumasensible Haltung auszubilden?
Stahl: Ich glaube der erste Schritt ist, zu begreifen, dass es sich um ein wichtiges Thema handelt, das viele Menschen im Kontext der Gemeinde oder kirchlichen Einrichtung betrifft. Betroffene sind wichtiger Teil der jeweiligen Gemeinschaften. Im zweiten Schritt ist es wichtig, sich über Traumata möglichst gut zu informieren. Die Umsetzung in die Praxis kommt dann auf die Menschen und die Möglichkeiten vor Ort an. Hier versuche ich ja auch in dem Buch Anregungen zu geben.
Neben einer traumasensiblen Theologie entwickeln Sie auch eine traumasensible Spiritualität. Woran denken Sie dabei?
Stahl: Ich würde sagen es ist kein abgeschlossener Entwicklungsprozess, sondern eine Suche. Die Suche danach, wie christliche Spiritualität Menschen im Umgang mit traumatischen Erfahrungen unterstützen kann. Der christliche Glaube kann Halt geben, biblische Texte können Sprachhilfen für den Ausdruck von Trauer und Zorn sein, religiöse Rituale können Struktur geben, Glaube kann eine Quelle von Sinnstiftung sein, um einmal einige Beispiele als Zwischenstand zu nennen.
In der seelsorglichen Begleitung kommt es auch zum spirituellen Missbrauch. Spiritueller Missbrauch geschieht dort, wo die "spirituelle Selbstbestimmung" (Doris Wagner) eines Menschen verletzt wird, etwa durch eine Abhängigkeit zum Begleitenden oder in Form einer niederdrückenden Sexualmoral. Wie lässt sich dem Phänomen begegnen? Braucht es neben einem wachsamen Blick für Anzeichen von Übergriffigkeit auch Korrekturen in Theologie und Liturgie?
Stahl: Es braucht die Auseinandersetzung mit dem Thema in der Aus- und Fortbildung von Menschen, die andere Menschen auf ihrem Glaubensweg begleiten. Und es braucht Vertiefungen in Theologie und Liturgie, die immer auch korrigierend wirken werden. Missbrauch, auch in seiner spirituellen Form, ist dem Wesen des christlichen Glaubens zutiefst entgegengesetzt. Ich glaube aus dem Spannungsfeld von Trauma und Theologie können sich Perspektiven erschließen, die auch spirituellem Missbrauch entgegenwirken können. Und die auch genuin wichtig sind, weil sie an den Kern des christlichen Glaubens näher heranführen.