München (epd). Der emeritierte Papst Benedikt XVI. wird in einem unabhängigen Gutachten zu Missbrauchsfällen im katholischen Erzbistum München und Freising schwer belastet. So soll Joseph Ratzinger als Münchner Erzbischof (1977-1982) in vier Fällen nicht ausreichend gegen Missbrauchs-Täter vorgegangen sein, wie aus dem am Donnerstag in München vorgestellten Gutachten hervorgeht. Die beteiligten Anwälte sprachen von einer „Bilanz des Schreckens“. Der derzeitige Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx zeigte sich „erschüttert und beschämt“. Der Vatikan kündigte eine Prüfung des Gutachtens an.
Es hätten sich im Untersuchungszeitraum von 1945 bis 2019 insgesamt Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt gefunden, so die Gutachter der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl. Das Gutachten stützt sich auf Personalakten von 261 Personen, dazu Sitzungsprotokolle, Nachlassbestände und Zeitzeugengespräche.
Für weltweites Interesse an dem Gutachten sorgte die Rolle des früheren Papstes Benedikt XVI. in diesem Komplex. Ein 370 Seiten umfassender Sonderband in dem mehr als 1.900-seitigen Gutachten beschäftigt sich mit einem Fall, in dem ihm die Gutachter eine Verfehlung vorwerfen: Es geht um einen katholischen Priester aus dem Bistum Essen, der 1980 trotz des bekannten sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen ins Erzbistum München und Freising wechseln durfte. Papst Benedikt XVI. bestreitet beispielsweise laut einer Stellungnahme für die Gutachter, bei einer Sitzung im Erzbistum zugegen gewesen zu sein, indem es um die Übernahme des Priesters ging. Diese Aussage des emeritierten Papstes halte er nach den vorliegenden Protokollen für „wenig glaubwürdig“, sagte Rechtsanwalt Ulrich Wastl.
Dem amtierenden Erzbischof Reinhard Marx legen die Gutachter Fehlverhalten in zwei Fällen zur Last, bescheinigen ihm aber eine „grundsätzliche Offenheit“ beim Thema sexueller Missbrauch. Doch auch er habe sich darauf beschränkt, die ihm von seiner Verwaltung vorgeschlagenen Maßnahmen durchzusetzen. Die Verantwortung dürfe bei solch einem Thema aber nicht an Untergeordnete abgeschoben werden, dies sei „Chefsache“. Anwalt Pusch bescheinigte der katholischen Kirche ein „generelles Geheimhaltungsinteresse“. Es gebe den unbedingten „Wunsch, die Institution Kirche zu schützen“. Dies habe bis heute Bestand.
Marx sagte in einer ersten Reaktion, als Erzbischof fühle er sich „mitverantwortlich für die Institution Kirche“ und bitte im Namen der Erzdiözese um Entschuldigung für das erfahrene Leid im Raum der Kirche.
Der Vatikan teilte mit, er werde in den folgenden Tagen Einsicht in den Text nehmen und ihn im Einzelnen prüfen. Der Leiter des Instituts fu?r Anthropologie der Päpstlichen Universität Gregoriana, Hans Zollner, forderte indes eine erneute Reaktion von Papst Benedikt XVI. auf die erhobenen Vorwürfe. Sein Privatsekretär Bischof Georg Gänswein erklärte in Rom, der emeritierte Papst werde den sehr umfangreichen Text in den kommenden Tagen "mit der nötigen Sorgfalt studieren und prüfen.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, beklagte einen empathielosen Umgang mit Missbrauchsopfern in der katholischen Kirche. „Der herzlose, konsequente Institutionenschutz wurde über Jahrzehnte praktiziert“, sagte Rörig dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Für den Münsteraner Kirchenrechtler Thomas ist klar, dass Benedikt XVI. die Unwahrheit gesagt hat. Er habe die Vorgeschichte von Pfarrer H. gekannt, er habe mitentschieden, dass er ohne Gefahrenauflagen in der Seelsorge eingesetzt wurde, und er war laut Gutachten in der entscheidenden Sitzung der Ordinariatskonferenz anwesend. „Er dementiert alle drei Sachverhalte. Das ist eine Lüge“, sagte er dem epd.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) teilte mit, das neue Gutachten zeige abermals, dass Verantwortliche in der katholischen Kirche „ihre Verantwortung nicht wahrgenommen“ hätten. „Wann folgen endlich Konsequenzen, die der dramatischen Lage gerecht werden?“, fragte die ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp. Das Münchner Gutachten zeige, „dass auf die Betroffenen bis 2010 keinerlei Rücksicht genommen wurde“.