München (epd). Ein unabhängiges Gutachten zu Missbrauchsfällen im katholischen Erzbistum München und Freising erhebt den Vorwurf des Fehlverhaltens gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI. in vier Fällen. Zwei Fälle betreffen von staatlichen Gerichten verurteilte Missbrauchstäter, die als Priester weiter in der Seelsorge tätig sein durften aus der Amtszeit Benedikts als Erzbischof von München zwischen 1977 und 1981, wie der Rechtsanwalt Martin Pusch am Donnerstag bei der Vorstellung des Gutachtens in München mitteilte.
In einem weiteren Fall soll ein Priester aus dem Ausland in den Dienst des Erzbistums übernommen worden sein, obwohl er im Ausland als Missbrauchstäter verurteilt worden war. Aus den Akten gehe hervor, dass Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., von der Vorgeschichte des Priesters gewusst habe, sagte Pusch. Benedikt XVI. bestreite den Vorwurf des Fehlverhaltens in allen Fällen. Er habe ausführlich schriftlich zu den ihm angelasteten Vorwürfen Stellung genommen, sagte Pusch. Die Stellungnahme sei im Anhang des Gutachtens mit Einverständnis des emeritierten Papstes veröffentlicht worden.
In dem Gutachten finden sich Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt. Das am Donnerstag von der Münchner Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl vorgestellte Gutachten hat Missbrauchsfälle aus den Jahren 1945 bis 2019 untersucht, um Hinweise auf systemische Ursachen und Verantwortlichkeiten in der Leitung des Erzbistums zu finden. Besonders viele Fälle ereigneten sich den Gutachtern zufolge zwischen Anfang der 1960er Jahre und Mitte der 1970er Jahre. Pusch betonte, die Zahlen deckten nur das Hellfeld ab. Die Kanzlei gehe von einem weitaus größeren Dunkelfeld aus.
Das Gutachten stützt sich auf Personalakten von 261 Personen, dazu Sitzungsprotokolle und weitere Akten, etwa aus Nachlassbeständen. Außerdem befragten die Gutachter 56 Personen, darunter auch noch lebende kirchliche Funktionsträger des Erzbistums.