Mainz (epd). Der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert hat der Ampel-Koalition aus SPD, FDP und Grünen vorgeworfen, mehrere Millionen armer Menschen auch künftig von gesellschaftlicher Teilhabe auszuschließen. Es sei gerade vor dem Hintergrund der Corona-Krise skandalös, dass sich die künftige Regierung nicht auf eine deutliche Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes geeinigt habe, sagte der Vorsitzende des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“ in Mainz in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Die geplante Anhebung um drei Euro zum Jahreswechsel gleiche bei weitem nicht Preissteigerungen und zusätzliche, pandemiebedingte Kosten für Hygieneartikel aus. Alle im Koalitionsvertrag angekündigten Verbesserungen, etwa bei Zuverdienstmöglichkeiten und der Anrechnung eigenen Vermögens, blieben vor diesem Hintergrund zweitrangig. „Für die Menschen kommt es darauf an, wie viel Geld sie zur Verfügung haben“, sagte Trabert. Der Regelsatz hätte von derzeit 446 auf mindestens 600 Euro monatlich erhöht werden müssen.
In der Corona-Pandemie hätten Bezieher von Sozialleistungen schon heute ein um über 80 Prozent höheres Risiko, an Covid-19 zu erkranken als der Bevölkerungsdurchschnitt. Mit dem Hartz-IV-Regelsatz sei es unmöglich, sich gesund zu ernähren. Beengte Wohnverhältnisse verstärkten das Ansteckungsrisiko. Zum Teil fehle den Menschen sogar das Geld, um sich Masken zu kaufen: „Über 3,8 Millionen Menschen scheint man schon wieder zu vergessen“, kritisierte der Arzt.
Im Koalitionsvertrag fehlten auch wirksame Maßnahmen, um die „Drei-Klassen-Medizin“ in Deutschland zu überwinden. „Die Idee der Bürgerversicherung spielt keine Rolle mehr“, klagte Trabert. Auch gebe es keine Entlastung bei den Zuzahlungen. Mittlerweile seien chronische Krankheiten in der Bundesrepublik der dritthäufigste Grund von Überschuldung. Nach Überzeugung des Mediziners wäre es dringend notwendig, dass Krankenkassen bei Kindern die Fahrtkosten zum Arzt und bei Erwachsenen wieder die Ausgaben für eine Brille übernähmen.
Der „Verein Armut und Gesundheit“ betreibt seit 2013 in Mainz eine Ambulanz für Menschen ohne Krankenversicherung. Ein Teil der Patienten habe wegen hoher Beitragsschulden bei privaten Kassen keinen Zugang zur regulären Versorgung mehr. Bei Geldproblemen würden die Betroffenen in den wenigsten Fällen über die Möglichkeit informiert, in einen Notlagentarif zu wechseln und damit eine Überschuldung zu vermeiden, fügte Trabert hinzu.
Einen besorgniserregenden Trend sieht Trabert auch in der zunehmenden Zahl von Anfragen älterer Menschen, die Probleme hätten, eine Arztpraxis zu besuchen. Diese fänden aber keinen Hausarzt mehr, der auch bereit sei, gelegentliche Hausbesuche zu absolvieren.