Raumplanungs-Experte: "Es gibt eine Kluft bei der Bürgerbeteiligung"

Raumplanungs-Experte: "Es gibt eine Kluft bei der Bürgerbeteiligung"
01.08.2021
epd
epd-Gespräch: Christine Ulrich

München (epd). Die Kommunen in Deutschland hatten nach Ansicht des Raumplanungs-Experten Alain Thierstein bereits viel Zeit, sich auf den Klimawandel einzustellen: Der erste Bericht des Weltklimarats sei 1990 gekommen. Doch weil die Gefahren sich bislang nicht so zugespitzt darstellten, sei die „Strukturveränderung langsam“, sagte der Münchner Professor im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Bei der jüngsten Flutkatastrophe sei wieder zu sehen: „Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem, was Menschen kurzfristig wollen, was sie langfristig falsch machen und den topographischen Gegebenheiten.“ Im rheinischen Ahrtal etwa habe es schon früher Flutwellen gegeben, doch man habe das Risiko nicht wahrhaben wollen, sagte Thierstein, der an der Technischen Universität München den Lehrstuhl für Raumentwicklung innehat.

Vor allem gilt es dem Stadtplaner zufolge, „die tieferen Strukturen zu erkennen, etwa den Zusammenhang zwischen der Flutkatastrophe und Corona“. Die Phänomene hingen beide mit der globalisierten Wirtschaftsweise zusammen. Im Wettlauf um billigere Produktion werde die unberührte Natur weiter ausgebeutet, was bereits Erderwärmung und Wetterextreme verursacht habe.

Das flächenintensive und expansive Verhalten der Menschen bedränge die freien Räume und Ökosysteme, „und diese zeigen dann Abwehrreaktionen: Viren von Wildtieren springen auf den Menschen über“. Die Zusammenhänge seien komplex und schwierig zu verstehen, was etwa politische Partizipation „anstrengend“ mache.

In Deutschland existiert laut Thierstein eine Kluft beim Thema Partizipation. Zwar wünschten sich Bürger in Deutschland durchaus Beteiligung, etwa bei der Stadtplanung, und es fänden auch Partizipationsprozesse statt. Allerdings gebe es keine gesetzliche Basis dafür, dass die Ergebnisse daraus auch umgesetzt werden - letztlich entscheide hoheitlich der Staat: „Diese Kluft sorgt oft für Frust und auch für Radikalisierung.“

In seinem Heimatland Schweiz sei die Subsidiarität - also Aufgaben möglichst auf kleinster Ebene zu lösen, mit viel Eigenverantwortung beim Individuum - stärker ausgeprägt, was auch Verantwortungsgefühl schaffe.

Wohnen und Arbeiten werden nach Thiersteins Ansicht im Zuge der Corona-Krise voraussichtlich nicht generell zusammenrücken. „Aber das 'working from home' dürfte in großen Teilen bleiben“, sagte er dem epd. Vorstellbar sei etwa das Modell, künftig die Arbeitszeit je zur Hälfte im Büro und zuhause zu verbringen: „Da wird sich ein neues Gleichgewicht einpendeln“, sagte Thierstein.