Wiesbaden (epd). Der wegen des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verurteilte Rechtsextremist Stephan Ernst wurde vom Staatsschutz der Polizei in Nordhessen zunächst nur als Mitläufer der Szene eingestuft. Das geht aus der Vernehmung eines inzwischen pensionierten Polizeibeamten am Freitag vor dem Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags zum Mordfall Lübcke hervor. „Ich hätte ihm niemals einen Mord zugetraut“, sagte der ehemalige Staatsschützer Karl-Ulrich Lenz, der in Wiesbaden als erster Zeuge vor dem Ausschuss gehört wurde.
Ernst ist inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er im Juni 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha erschossen hat. Als Mordmotiv gilt Hass auf Lübcke wegen dessen entschiedenen Eintretens für die Aufnahme von Flüchtlingen. Der Ausschuss war 2020 eingesetzt worden, um mögliche Versäumnisse der Sicherheitsbehörden vor dem Mord an Lübcke aufzuklären. Die Akte des Ende Januar als Täter verurteilten Ernst war 2015 vom Landesamt für Verfassungsschutz geschlossen worden, weil er als inzwischen „abgekühlter“ Rechtsextremist eingestuft worden war.
Ex-Staatsschützer Lenz sagte am Freitag, für ihn habe Ernst viele Jahre lang „eigentlich als nichtssagender Mitläufer“ der rechtsextremistischen Szene gegolten. Er sei zwar gelegentlich in Zusammenhang mit Straftaten in Erscheinung getreten, die Ermittlungen etwa wegen Körperverletzung seien aber eingestellt worden, weil Ernsts Aussage nicht habe widerlegt werden können, dass er nur am Tatort anwesend, aber nicht am Geschehen beteiligt gewesen sei.
Ernst habe zum Kreis der 30 aktiven Rechtsextremisten in Nordhessen gehört, an Sonnwendfeiern und Kameradschaftstreffen teilgenommen, in der Szene aber keine führende Rolle gehabt, erklärte Lenz. Nach seiner Vermutung habe wohl irgendjemand aus der Neonazi-Szene Einfluss auf ihn genommen, so dass er Jahre später zu solch einer Mordtat fähig gewesen sei.