Berlin (epd). Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe will sich die Ärzteschaft erstmals mit den Konsequenzen für ihre Haltung zur ärztlichen Suizidassistenz befassen. Der 124. Deutsche Ärztetag Anfang Mai werde ausführlich und ergebnisoffen debattieren, sagte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, am Dienstag in Berlin. Die Versammlung wolle sich auch mit Gesetzesinitiativen aus dem Bundestag befassen sowie einem Vorschlag zur Änderung der Musterberufsordnung für Ärzte, wonach das bisherige Verbot ärztlicher Suizidassistenz gestrichen werden soll.
Zugleich sei geplant in der Musterberufsordnung darauf hinzuweisen, dass die Suizidassistenz keine grundsätzliche ärztliche Aufgabe sei. Dies sei seine persönliche Auffassung, sagte Reinhardt, und das werde voraussichtlich auch die Mehrheit des Ärztetages so sehen.
Reinhardt zufolge wird der Ärztetag auch über eine Handreichung des BÄK-Vorstandes beraten für Mediziner, die mit Sterbewünschen von Patienten konfrontiert sind. Es handele sich um eine Art "Schutzkonzept", sagte Reinhardt. Ärzte sollen danach die Umstände und Hintergründe des Sterbewunsches abklären und erörtern, ob er wirklich der freie Wille des Patienten ist. Zu prüfen sei auch, ob eine psychische Erkrankung vorliegt und ob wegen sozialer Probleme Hilfe vonnöten sei, erläuterte Reinhardt.
Die Erfahrung zeige, dass nur "eine sehr kleine Zahl von Menschen" den Suizid wirklich wolle, wenn all diese Aspekte berücksichtigt würden. Der BÄK-Vorstand erwarte eine freie Debatte über die Handreichung. Abschließend werde der Ärztetag das Thema Suizidbeihilfe nicht behandeln, da die Gesetzgebung zur Suizidassistenz ja noch ausstehe, sagte Reinhardt.
Der Ärztetag findet am 4. und 5. Mai digital statt. Hauptthema sind Erfahrungen mit und Konsequenzen aus der Corona-Pandemie. Da das Treffen im vorigen Jahr ausfiel, ist der digitale Ärztetag der erste seit Ausbruch der Pandemie.
Das Thema Suizidassistenz steht seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wieder zur Debatte und beschäftigt daher auch die Ärzte. Die Karlsruher Richter hatten vor gut einem Jahr das 2015 verabschiedete Verbot der organisierten - sogenannten geschäftsmäßigen - Hilfe bei der Selbsttötung gekippt. Die Richter urteilten, dass das Recht auf Selbstbestimmung auch das Recht umfasst, sich das Leben zu nehmen und dabei die Hilfe Dritter, also auch von Ärzten, in Anspruch zu nehmen.
Suizidassistenz leistet, wer einem Sterbewilligen ein todbringendes Medikament überlässt, aber nicht verabreicht. Das vom Verfassungsgericht gekippte Gesetz sollte der organisierten Suizidassistenz, also den in Deutschland tätigen Sterbehilfevereinen, die rechtliche Grundlage entziehen. Gegenwärtig sind deren Aktivitäten wieder erlaubt. Mehrere Abgeordnetengruppen haben deshalb inzwischen Überlegungen für neue gesetzliche Regelungen zur Suizidassistenz vorgelegt. Für diesen Mittwoch ist im Bundestag dazu eine Orientierungsdebatte vorgesehen. Ob es bis zur Bundestagswahl im Herbst noch zu Gesetzesänderungen kommen wird, ist offen.
Eine Gruppe um die FDP-Abgeordnete Katrin Helling-Plahr und den SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach setzt sich dafür ein, Ärzten die Verschreibung tödlich wirkender Medikamente zum Zweck der Selbsttötung zu erlauben. Voraussetzung soll eine Beratung sein. In eine ähnliche Richtung geht ein Entwurf der Grünen-Politikerinnen Renate Künast und Katja Keul. Eine weitere Gruppe, der Abgeordnete aller Fraktionen außer der AfD angehören, strebt eine Regelung an, die Prävention und den Schutz vor äußerem Druck bei dieser Entscheidung in den Mittelpunkt rückt.