"Wir brauchen mehr Zeit, um diese wichtige Debatte öffentlich auszutragen", sagte Bahr dem Evangelischen Pressedienst: "Der Redebedarf ist groß, die Debatte steht augenblicklich zu sehr im Schatten der Pandemie. Sie gehört aber an jeden Familientisch." Für den Wahlkampf sei das Thema wegen der Gefahr verkürzender Zuspitzungen ungeeignet. Bahr ist Regionalbischöfin in Hannover und Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Mehrere Initiativen im Bundestag bereiten zurzeit neue Regelungen zur Sterbehilfe vor, um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen. Die Karlsruher Richter hatten vor einem Jahr das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben herausgestellt, das auch Dritten die Assistenz beim Suizid erlaube. In der Folge war eine Debatte über den assistierten Suizid auch in der Kirche entbrannt. Während Diakoniepräsident Ulrich Lilie, Landesbischof Ralf Meister und andere eine Offenheit dafür auch in kirchlichen Einrichtungen ins Gespräch brachten, wandten sich andere prominente Theologen wie Wolfgang Huber, Peter Dabrock und auch der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm dagegen aus.
Obligatorische Beratung
Bei der Neuregelung seien nun Schutzkonzepte nötig, die verhinderten, "dass der assistierte Suizid nicht zu einer normalen Praxis wird", sagte Bahr. "Wie verhindert man, dass eine 16-jährige Schülerin mit schwerstem Liebeskummer den Eindruck gewinnt, eine Sterbehilfe-Organisation sei für sie zuständig? Oder dass ein Mensch mit einer schweren Krebsdiagnose diese als einzige Adresse wahrnimmt?" Es gehe darum, Sterbewilligen auch Lebensperspektiven aufzuzeigen und die Veränderlichkeit und Bedingtheit von Sterbewünschen ernst zu nehmen.
Deshalb müsse es eine obligatorische Beratung für Menschen geben, die eine begleitete Selbsttötung wünschten. "Diese Beratung muss von einer Haltung geprägt sein, die die freie Entscheidung achtet, aber Perspektiven der Lebensbindung aufzeigt und Menschen unter Umständen auch lange begleitet", betonte die Ethikerin. "Das stellt große Anforderungen an die Gesellschaft." Einsamkeit etwa sei ein unterschätztes oder verdrängtes Thema. Es gehe aber um mehr als "nur ein prozedurales Verfahren, um einen Suizid haftungsrechtlich halbwegs sicher über die Bühne zu kriegen".
Bahr warnte vor einem "amputierten Freiheitsverständnis", das ausschließlich auf das eigene Sterben blicke. "Menschen leben in Beziehungen. Ihr Tod und die Art ihres Sterbens haben erhebliche Folgen für Partner, Kinder, Enkel, Ärztinnen oder Pfleger."
Aus Sicht der Theologin wird die Neuregelung der Sterbehilfe gesellschaftliche Folgen haben, die bedacht werden müssten. "Wie verändert sich die Rolle der Medizin, wie das Selbstverständnis diakonischer Einrichtungen, wie das Verhältnis zum Sterben, aber auch zum Leben, das anders verläuft als erhofft?" Zudem könnten etwa Hochbetagte oder Schwerkranke in die Situation kommen, ihr Leben unter ökonomischen Dimensionen zu betrachten und sich als unzumutbare Last für die Gesellschaft zu empfinden. Das vertrüge sich nicht mit dem Gedanken der Menschenwürde. All die verlange eine gründliche Debatte.