Berlin (epd). Trotz Wiederaufnahme der Impfungen mit dem Mittel von Astrazeneca rechnet Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht mit einer schnellen Entspannung der Pandemielage. "Wir werden noch einen langen Atem brauchen", sagte Spahn am Freitag mit Blick auf die wieder stark steigenden Infektionen mit dem Coronavirus. Impfen sei ein zentraler Schritt raus aus der Pandemie, sagte er. Zur ehrlichen Lageanalyse gehöre aber auch zu sagen, dass es nicht genügend Impfstoff gebe, "um die dritte Welle durch Impfungen zu stoppen", ergänzte er.
Es werde noch einige Wochen dauern, bis die Risikogruppen geimpft sind, sagte der Gesundheitsminister. Die aktuell steigenden Fallzahlen könnten bedeuten, dass zunächst keine Öffnungen vorgenommen werden könnten, sondern man im Gegenteil sogar Schritte zurück gehen müsse. Die Analyse der Experten sei klar: "Die Infektionszahlen müssen runter."
Der Vize-Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lars Schaade, sagte, die Zahl der Infektionen steige bereits wieder exponentiell. Grund sei die Virusvariante B.1.1.7. Zudem steige auch die Zahl von Patienten mit einer Covid-Erkrankung auf Intensivstationen wieder an. "Wir müssen damit rechnen, dass wieder mehr Menschen in Verbindung mit Covid-19 sterben", sagte Schaade: "Uns stehen leider wieder schwere Wochen bevor."
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte, Deutschland stehe am Beginn einer "fulminanten dritten Welle". Ginge die Entwicklung so weiter wie aktuell, liege die Inzidenz bis Mitte bei April bei 200. "Wir müssen zurück in den Lockdown", sagte er. Entweder entscheide man sich für einen sofortigen "schnellen und harten" Lockdown, wenn man aber den Lockdown verzögere, werde er letztlich länger dauern, sagte Lauterbach. Seit wenigen Wochen sind in Deutschland wieder Schulen, Kitas und zum Teil auch Geschäfte offen.
Lauterbach begrüßte die Wiederaufnahme der Impfungen mit Astrazeneca. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hatte am Donnerstag erklärt, dass sie das Vakzin weiter für sicher hält und den Nutzen der Impfung als höher beurteilt als das Risiko einer Hirnvenenthrombose, die in wenigen Fällen im Zusammenhang mit der Impfung vor allem bei jüngeren Frauen aufgetreten waren. Spahn hatte daraufhin den am Montag verfügten vorläufigen Impfstopp wieder aufgehoben. Ärzte und Impflinge sollen einen mit einem Warnhinweis aktualisierten Aufklärungsbogen bekommen.
Lauterbach, selbst Arzt, sagte, aus Vorsicht müsse man vom schlechtesten Fall ausgehen, nämlich dass die Fälle von Hirnvenenthrombosen ein spezifisches Muster sind. Er betonte aber, dass dieser kausale Zusammenhang noch nicht erwiesen ist. Astrazeneca sei zuerst nur an Jüngere verimpft worden, darunter Pflegekräfte, Lehrerinnen und Erzieherinnen - also vorwiegend Frauen. Auch das könne die in dieser Gruppe gehäuften Fälle erklären.
Die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU), die Priorisierung bei den Impfungen zu lockern oder für Astrazeneca ganz aufzuheben, lehnte die Bundesregierung ab. Die Impfverordnung sei sehr pragmatisch, sagte Spahn. Die Verordnung definiert eine Reihenfolge, die sicherstellen soll, dass Risikogruppen wie Ältere und Vorerkrankte zuerst geschützt werden. Kürzlich war sie überarbeitet worden, um unter anderem für die bald geplanten Impfungen in Arztpraxen Flexibilität zu ermöglichen.
Spahn betonte vor dem Hintergrund der wieder stark steigenden Infektionszahlen, es sei aber nach wie vor wichtig, zunächst Ältere und Vorerkrankte zu impfen. Die Priorisierung sei notwendig, solange nicht genügend Impfstoff da sei, sagte auch Regierungssprecher Steffen Seibert. Am Freitagnachmittag wollten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Regierungschefs der Länder nach seinen Angaben zum geplanten Impf-Gespräch zusammenkommen, bei dem es unter anderem um den Start der Impfungen in Hausarztpraxen gehen sollte.
Zu möglichen Verunsicherungen junger Frauen bezüglich des Astrazeneca-Impfstoffs sagte Spahn aber auch, er könne sich vorstellen, dass "situationsbezogen" mit dem Arzt entschieden werden könne, ein anderes Vakzin zu nehmen. Gleichzeitig müssten aber auch die Impfstoffe genutzt werden, die vorhanden sind, sagte er.