Hannover (epd). In der Pandemie könnte nach Ansicht des Philosophen Jürgen Manemann eine neue Form von Solidarität entstehen. Das zeige etwa ein Blick auf die Impfreihenfolge, in der einige besonders gefährdete Gruppen nachträglich nach oben gerutscht sind. Grund dafür sei eine wachsende Sensibilität dafür, dass Menschen unterschiedlich verwundbar seien. "Dies kann der Beginn einer sorgenden Gesellschaft sein, in der Bürger aktiv für Schwächere einstehen", sagte der 57-Jährige dem Evangelischen Pressedienst (epd). Manemann ist katholischer Theologe, Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover und Mitglied der Initiative Niedersächsischer Ethikrat.
Die Mehrheit der Bürger unterstütze die Impfpriorisierungen, auch wenn sie sich vielleicht für sich selbst oder ihre Angehörigen einen früheren Impftermin wünschten. "Das finde ich erst einmal erstaunlich, das ist keine Selbstverständlichkeit", sagte er. Es gebe aber auch Menschen, die die Priorisierung ablehnen. Das sei unsolidarisch, könne aber vereinzelt auch Ausdruck einer Panik vor einer Ansteckung sein.
Gesellschaftliche Solidarität tritt Manemann zufolge in verschiedenen Formen in Erscheinung. Es gebe eine Zwangssolidarität, die dadurch ausgelöst werde, dass das Virus jeden gleichermaßen treffen könne. "Es zwingt uns gewissermaßen zum Zusammenhalt", sagte er. Demgegenüber lasse die Zwecksolidarität Menschen zusammenrücken, weil es für sie selbst von Vorteil sei, mit anderen an einem Strang zu ziehen.
Die sorgende Solidarität beziehe sich dagegen vor allem auf die Unterstützung der Handlungsfähigkeit besonders verwundbarer Menschen. In der Corona-Krise seien das zum Beispiel Menschen mit Behinderungen. Diese seien in den politischen Entscheidungen nahezu vergessen worden. "Es geht also um eine Solidarität, die aktiv Sorge trägt für die, die in der Pandemie von der Teilhabe ausgeschlossen oder in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt werden", erklärte Manemann. Der Begriff "sorgende Solidarität" stamme von der Hamburger Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker.
Sorgende Solidarität setzt Manemann zufolge voraus, dass Menschen das Leid anderer wahrnehmen, die verwundbarer sind als sie selbst. Dafür müssten sie anderen offen gegenübertreten und Interesse an ihren Problemen haben. "Ich kann kein solidarischer Mensch sein, wenn ich Mauern um mich herum errichte", betonte Manemann. "Solidarität kann man nicht predigen oder künstlich erzeugen, man muss sie fühlen."