Natürlich zitiert der Titel die Redensart nicht korrekt; man sagt ja auch nicht, dass jemand alle Tassen im Schrank oder alle Latten am Zaun hat. Außerdem signalisiert "Alle Nadeln an der Tanne" eine Komödie, und selbst das stimmt nur zur Hälfte. Richtig ist immerhin die Assoziation Weihnachten. Die Geschichte könnte sich zwar auch im Sommer zutragen, aber da die Handlung Anfang Dezember beginnt, sorgt das vermeintliche Fest der Liebe für eine Art Countdown, zumal die Zuneigung zwischen den Hauptfiguren und damit zwangsläufig auch jede festliche Vorfreude kontinuierlich abnehmen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Nach einem Drehbuch von Uli Brée und Rupert Henning, die dem TV-Publikum schon viele vergnügliche Stunden bereitet haben (allen voran mit der ORF-Serie "Vier Frauen und ein Todesfall"), erzählt die österreichische Regisseurin Mirjam Unger ("Vorstadtweiber") von einem fragilen familiären Gefüge, das durch einen unerwarteten Gast komplett aus den Fugen gerät: Fünf Jahre war Moritz Aschbach (Marcus Mittermeier) wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich taucht er wieder auf, aber Maria (Anna Loos) erkennt ihren Bruder kaum wieder: Der Fotograf hat sich bei einem Autounfall in Algerien ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zugezogen. Nun ist er ein Pflegefall: Nimmt er seine Medikamente, stiert er apathisch vor sich hin; nimmt er sie nicht, ist er bis hin zum Suizidversuch unberechenbar. Also nimmt Maria Moritz zu sich. Prompt hat der Familienzuwachs zur Folge, dass Konflikte, die bislang unterschwellig vor sich hin köchelten, offen zu Tage treten. Am deutlichsten wird dies bei Maria und ihrem Mann: Kurt (Simon Schwarz) schreibt Reiseführer, ohne das Haus zu verlassen, und schläft schon seit geraumer Zeit im Gästezimmer; angeblich, weil er zu laut schnarcht. Das tut er zwar in der Tat, aber natürlich ist der Umzug äußeres Merkmal der inneren Entfremdung.
Wie alle wirklich guten Komödien ist "Alle Nadeln an der Tanne" also in Wirklichkeit ein Drama, das sogar Züge einer Tragödie trägt, denn es gibt einen Grund, warum Moritz vor fünf Jahren Hals über Kopf aus Deutschland geflohen ist; die entsprechenden Rückblenden (mit Mariam Hage als einstige große Liebe) sind von schmerzlicher Schönheit. Aber auch die Gegenwart ist den weihnachtlichen Vorbereitungen zum Trotz voller Tristesse, und das nicht nur, weil es für Moritz keine Hoffnung gibt: Maria führt ein Leben voller Montage, sie fühlt sich als Frau und Mutter unterfordert, hat eine Affäre mit dem Nachbarn und fährt bei jeder Kleinigkeit aus der Haut. Anlässe gibt es genug: Die 17jährige Tochter Emily (Jana Münster) fährt einen konsequenten Konfrontationskurs und will die Schule abbrechen, um als freiwillige Helferin nach Neu Delhi zu ziehen; der jüngere Sohn Felix (Leo Bilicky) leidet unter diversen Hypersensibilitäten und wird deshalb in der Schule gemobbt.
Kaum zu glauben, dass Brée, Henning und Stein dem deprimierenden Stoff komische Seiten abgewinnen konnten, selbst wenn diese Ebene in erster Linie durch Simon Schwarz verkörpert wird. Es ist dem Wiener erneut famos gelungen, eine Figur von trauriger Gestalt auf mitreißend heitere Weise zu spielen, wofür ihm in vielen Momenten kleine, mit scheinbar leichter Hand hingeworfene Gesten genügen.
Witzigste Begebenheit des Films ist ein auf ganzer Linie gescheiterter Versuch, illegal einen Christbaum zu besorgen; im Naturschutzgebiet. Anschließend muss Maria Ehemann und Sohn in einem Polizeirevier abholen. Kurz drauf wiederholt sich die Szene, nun jedoch mit veränderten Rollen: Diesmal ist es Kurt, der Ehefrau und Schwager auslösen muss, und schon allein die Wiederholung der entsprechenden Dialoge ist sehr witzig. Es sind ohnehin wie so oft die Details, die den besonderen Charme des Films ausmachen, etwa die allmorgendliche Verabschiedungsszene des Nachbarehepaars, wenn der Mann (Michele Cuciuffo) die von der Gattin (Bettina Mittendorfer) mit ausgefallenen Aufstrichen versehenen Pausenbrote dem Hund überlässt.
Das gesamte Ensemble ist vorzüglich, inklusive der beiden jugendlichen Darsteller, die von der Regisseurin ganz ausgezeichnet geführt worden sind. Und dennoch ragt Marcus Mittermeier aus dieser Gruppe noch heraus. Moritz ist zwar der Antagonist, weil er alles durcheinander bringt, aber dank der empathischen Leistung des gebürtigen Niederbayern weckt der Fotograf in erster Linie Anteilnahme. Mittermeier verkörpert die emotionalen Schwankungen des Mannes mit berührender Intensität, und das durchaus auch physisch: Als Moritz einen epileptischen Anfall hat, wirkt das geradezu beängstigend echt.
Sehr schön integriert sind zudem die Rückblenden in die wenig erbauliche Jugend der Geschwister, die unter einem despotischen Vater (Michael A. Grimm) gelitten haben. Als Leitmotiv für das unzerstörbare Band, das damals zwischen ihnen entstanden ist, dient der dramaturgisch fortan sehr geschickt eingesetzte Alphaville-Hit "Forever Young". Dass „Alle Nadeln an der Tanne“ kein herkömmlicher Weihnachtsfilm ist, zeigt schon allein der weitgehende Verzicht auf die handelsüblichen amerikanischen Christmas-Klassiker.