Sozialphilosoph Negt warnt vor Verfall der politischen Sitten

Sozialphilosoph Negt warnt vor Verfall der politischen Sitten
10.09.2020
epd
epd-Gespräch: Daniel Behrendt

Hannover (epd). Der Sozialphilosoph Oskar Negt warnt vor einem Verfall der politischen Sitten in Deutschland. Die sogenannten "Querdenker"-Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen seien von offener Verachtung gegenüber dem Staat geprägt, sagte Negt dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dies sei, etwa im Vergleich zu den Demonstrationen infolge der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015, eine neue Eskalationsstufe.

"Damals entzündete sich der Protest an den Geflüchteten, womöglich auch ein wenig an der Bundeskanzlerin", erklärte der 86-Jährige. "Bei den aktuellen Protesten ist die Demokratie selbst Zielscheibe - oder genauer: die sie repräsentierenden Institutionen und Organe." In dieser grundsätzlichen Verneinung der demokratischen Verfasstheit drücke sich ein neues Maß an Frustriertheit aus, das zunehmend den gesellschaftlichen Frieden bedrohe.

Noch im Mai hatte sich der Hannover lebende Sozialphilosoph im epd-Gespräch zuversichtlich gezeigt, dass angesichts der Corona-Pandemie "eine neue Qualität von Zusammenhalt und zivilgesellschaftlichem Selbstbewusstsein" entstehen könnte. Diesen Optimismus habe er angesichts von "aus tiefer Humanität" getriebenen Bewegungen wie der Klimaschutz-Initiative "Fridays for Future" und der Anti-Rassismus-Bewegung "Black Lives Matter" nach wie vor, erläuterte Negt. Allerdings besorge ihn die "Demokratie- und Menschenverachtung" der selbst ernannten "Querdenker" und der Rechtsradikalen zutiefst.

In Hinblick auf den kürzlich veröffentlichten "Populismusmonitor" der Bertelsmann-Stiftung, wonach populistische Einstellungen insgesamt rückläufig sind, sagte Negt: "Ich sehe die Gefahr eher auf einer Ebene unterhalb klar identifizierbarer politischer Einstellungen. Es ist ein zwar heftiges, zugleich aber diffuses Gefühl, das sich auf diesen Kundgebungen Bahn bricht." Dieses Gefühl werde "nicht allein durch konkrete Enteignungs- und Abstiegs-Sorgen genährt, sondern offenbart sich zunehmend in paranoiden Befürchtungen, manipuliert und von finsteren Mächten gesteuert zu werden". Beunruhigend sei, dass "zunehmend auch Schichten von diesem Gefühl erfasst werden, die eigentlich nichts zu befürchten haben".

Derzeit sei eine "Verwahrlosung der politischen Sitten und eine Vernachlässigung des Gemeinwesens" zu erleben, beklagte der Sozialphilosoph. Dieses Phänomen sei nicht nur an den politischen Rändern zu beobachten und wurzele in einem ausgeprägten Egozentrismus sowie einem Mangel an Orientierung am Gemeinwesen. "Unsere Gesellschaft leidet an einem Empathie-Defizit", unterstrich Negt. "Darum handelt es sich im Kern."