Frankfurt a.M. (epd). Mit einem neuen Geständnis des Hauptangeklagten hat der Prozess um den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am Mittwoch eine überraschende Wende genommen. Stephan E. bezichtigte sich des Mordes - und den Mitangeklagten Markus H. der geistigen Urheberschaft. In dem von Strafverteidiger Mustafa Kaplan vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main vorgetragenen Text beschrieb E., wie er gemeinsam mit dem der Beihilfe angeklagten H. in der Nacht zum 2. Juni 2019 Lübcke auf dessen Terrasse in Wolfhagen-Istha aufsuchte.
Er, E., habe auf Anweisung H.s mit der Pistole auf Lübcke gezielt und mit den Worten "Beweg dich nicht!" ihn in den Stuhl zurückgedrückt. Als der Regierungspräsident geschrien habe: "Verschwinden Sie!" und wieder aufstehen wollte, habe er geschossen. Rechtsanwalt Kaplan fügte an: Mit der zweiten E. angelasteten Tat, der Messerattacke auf einen irakischen Flüchtling 2016 in Lohfelden, habe E. nichts zu tun.
"Es bleibt unentschuldbar, was ich der Familie Lübcke angetan habe", verlas Kaplan. "Es war feige, falsch und grausam." Der Strafverteidiger las die Worte "es tut mir leid" dreimal. "Ich kann es nicht rückgängig machen", hieß es weiter. "Ich übernehme dafür die Verantwortung." E. bat um Aufnahme in ein Aussteigerprogramm für Rechtsradikale.
Die vergangenen Verhandlungstage waren davon geprägt, dass der Hauptangeklagte in den Vernehmungen zwei widersprüchliche Aussagen gemacht hatte. Die zweite Aussage ging mit dem Wechsel seines Rechtsanwalts einher, und der erneute Wechsel eines Strafverteidigers brachte am achten Verhandlungstag das neue Geständnis.
E. und H. hätten demnach am Abend des 1. Juni um 22.30 Uhr das Auto in Wolfhagen-Istha geparkt und auf einer nahe gelegenen Pferdekoppel gewartet. Nachdem sie Lübcke auf der Terrasse seines Hauses bemerkt hätten, habe H. das Kommando zum Losgehen gegeben. An der Terrasse angekommen, habe H. Lübcke angeherrscht.
Strafverteidiger Kaplan rollte den von E. geschilderten Lebenslauf auf. Eine dominante Rolle nahm darin der alkoholkranke Vater ein, der im Suff E. und seine Mutter häufig verprügelt habe. Das Zuhause sei "eine Hölle aus Gewalt, Jähzorn und Eifersucht" gewesen. Der Vater sei ein Ausländerfeind gewesen. "Weshalb spielst Du mit den Kanaken?", habe er gefragt, und E. dafür verprügelt. Er, E., habe die Ausländerfeindlichkeit von ihm übernommen.
Erst im Gefängnis - nach einem Sprengstoffanschlag auf eine Asylunterkunft und einen Messerangriff - sei er, E., politisiert worden, trug Kaplan weiter vor. Die Gruppen in der NPD und der Freien Kameradschaft Kassel seien eine Art Heimat geworden. Er, E., halte Adolf Hitler für ein Verhängnis für Deutschland, sein Thema sei "die Überfremdung und Gewalt von Ausländern gegen Deutsche" gewesen. 2009 sei er aus der rechtsradikalen Szene ausgestiegen. Im selben Jahr habe er H. kennengelernt.
Damals, auch mit dem Tod des Vaters, sei es ihm, E., psychisch nicht gut gegangen. Die Freundschaft von H. habe ihm gutgetan: "Er war eine Mischung aus Freund und Vater." Ihre Gespräche seien immer politischer geworden. H. habe gesagt, die westliche Lebensart müsse gegen "die drohende Islamisierung verteidigt werden". "Er hat mich radikalisiert, manipuliert und aufgehetzt", verlas der Verteidiger. H. sei der Wortführer gewesen. "Er bestimmte, was wir machten. Ich ordnete mich ihm unter."
Nach der Bürgerversammlung in Lohfelden im Oktober 2015, als Regierungspräsident Lübcke die Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft verteidigte, habe H. gesagt, dass Lübcke ein "Volksverräter" sei. Gemeinsam hätten sie sein Haus ausgespäht.
Mit seinem dritten Geständnis widerrief E. die früheren Versionen. In seinem ersten Geständnis vom 25. Juni 2019 schilderte er, wie er allein zu Lübckes Haus gegangen sei und ihn erschossen habe. Im zweiten Geständnis vom 8. Januar 2020 und vom 5. Februar 2020 sagte er, er und H. hätten gemeinsam Lübcke aufgesucht, dabei habe sich aus H.s Waffe der Schuss gelöst. Er habe auf Anraten seines damaligen Rechtsanwalts Frank Hannig H. die Schuld zugeschoben, hieß es jetzt.