Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, spuckte in seine Augen, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas? Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen umhergehen, als sähe ich Bäume. Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht und konnte alles scharf sehen. Und er schickte ihn heim und sprach: Geh aber nicht hinein in das Dorf!
Markus 8,22–26 hier vorgelesen von Helge Heynold
Liebe Brieffreundinnen und -freunde,
ich hoffe, ich trete Ihnen mit dieser Anrede nicht zu nahe, aber ich habe festgestellt, dass mir unsere spezielle Fernbeziehung, die wir seit ein paar Monaten führen, ans Herz gewachsen ist. Es ist erstaunlich, wie viel Nähe entstehen kann, obwohl man einander nie begegnet ist. Vielleicht sind wir auch einfach so hungrig nach realer, physischer Nähe, dass wir mittlerweile alles als nah empfinden, das uns freundlich anspricht.
Jedenfalls habe ich für diese Woche einen Bibeltext ausgesucht, in dem es sehr nah zugeht. Jesus kommt nach Betsaida, einem Ort, der wörtlich übersetzt „Haus der Fische“ heißt und vermutlich am nordöstlichen Ufer des Sees Genezareth lag. Dort bringt man einen blinden Menschen zu Jesus, damit er ihn „anrühre“. Das ist durchaus wörtlich gemeint: Im griechischen Original steht hier das Wort „haptomai“. Darin steckt das Wort „haptisch“, das „tastende Begreifen“. Haptomai steht in der Bibel für Berührung, die etwas bewirkt. Menschen bringen Kinder zu Jesus, damit er sie „anrühre“ (Markus 10,13). Es wird mit Berührung gesegnet und geheilt. Berührung kann heilig machen (3. Mose 6,20) oder unrein (4. Mose 19,22). Berührung hat Konsequenzen.
Jesus nimmt den blinden Menschen bei der Hand und führt ihn zunächst aus dem Dorf. Anscheinend will er mit dem Menschen möglichst allein sein. Aber anstatt ihm dann die Hände aufzulegen, ihn also auf die gewünschte Weise zu berühren, spuckt Jesus ihm in die Augen. Das ist recht irritierend. Jemanden anzuspucken verbinden wir eher mit Beleidigung. Den Speichel eines anderen Menschen möchten wir ausschließlich in intimen Momenten an uns heranlassen. Wenn wir ein wenig nachdenken, fällt uns freilich ein, dass Spucke durchaus heilende Wirkung hat. „Sich die Wunden zu lecken“ ist sprichwörtlich, und wir erinnern uns an Enzyme im Speichel. Dass man andere allerdings mit dem eigenen Speichel heilen will, ist sehr unüblich, außer vielleicht nach dem Kontakt mit Brennnesseln oder bei Insektenstichen. Schließlich wissen wir auch von Bakterien und Viren. Trotzdem spuckt Jesus in die blinden Augen, dann legt er dem Menschen die Hände auf und fragt, ob er etwas sehen könne. Noch kann er nur verschwommen wahrnehmen. Menschen sehen für ihn aus wie laufende Bäume. Also legt ihm Jesus die Hände noch einmal auf die Augen und anschließend wirkt alles wieder scharf.
Warum diese zwei Schritte? In anderen Geschichten geschehen Wunder schlicht durch Jesu Wort. Warum hier diese zwei Versuche, wenn Jesus sonst sogar Tote im ersten Anlauf wieder lebendig macht? Man kann vermuten, dass Jesus hier eben nicht als Mediziner dargestellt werden sollte, sondern als jemand, der durch den Glauben und den Geist heilt. Ärzte machen Salben und sei es aus Speichel. Das kann Jesus auch, aber erst, als er dem Menschen die Hände auflegt, kann der wieder vollkommen sehen. Ich meine, dass es in dieser Geschichte außerdem um Intimität geht, darum, wie nah Gott in Jesus den Menschen kommt. Jesus ist quasi der innige Kuss zwischen Gott und den Menschen, und bei dem wird sogar Speichel ausgetauscht. Jesus spart nicht mit Berührung, er spart nicht mit Körperlichkeit. Später spart er nicht einmal mit seinem Blut.
Ich sehe noch eine zweite Botschaft in der Geschichte: Heilung kann dauern. Selbst bei Jesus höchstpersönlich kann es zwei Behandlungen brauchen, bis alles gut wird. Das finde ich sehr entlastend, denn wir haben alle enorm viel Geduld nötig. Jesus bleibt im wahrsten Sinne unbeirrt, als der Mensch nach der ersten Behandlung noch nicht wieder vollständig sehen kann. Er legt ihm einfach ein zweites Mal die Hände auf.
Und weil ich zwei Botschaften in diesem Text gefunden habe, gebe ich Ihnen diesmal auch zwei Wochenaufgaben: Zunächst einmal kommen Sie Ihrer Umgebung in dieser Woche einmal besonders aufmerksam nahe. Wenn Sie etwas anfassen, spüren Sie einmal genauer hin, wie es sich anfühlt. Merken Sie, wie Sie mit Ihrem Tastsinn begreifen. Werden Sie „haptisch“! Zweitens suchen Sie nach etwas, das Ihnen in letzter Zeit nicht auf Anhieb geglückt ist, und versuchen Sie es noch einmal! Bestimmt werden Sie etwas finden. Fragen Sie nicht danach, ob es sich wohl lohnt. Machen Sie es einfach noch einmal. Bleiben Sie unbeirrt zuversichtlich, dass es gelingen kann.
Ich grüße Sie herzlich
Ihr Frank Muchlinsky