Herr Wilm, Sie sind seit 18 Jahren Pastor auf St. Pauli. Wie wirkt sich die Corona-Krise auf den Kiez und das Gemeindeleben aus?
Sieghard Wilm: Sankt Pauli ist so still wie ich es nie gekannt habe. Es ist unglaublich. Auf der Reeperbahn, wo sonst Tausende von Menschen unterwegs sind, haben alle Bars, alle Diskotheken geschlossen. Auf der Großen Freiheit dasselbe. Ein völlig veränderter Stadtteil. Unsere Kirchentür ist auch geschlossen, alle Einrichtungen sind geschlossen. Und wir versuchen mit einem Notbetrieb etwas von dem Kontakt aufrechtzuerhalten.
Ihre Gemeinde hat die 200 Jahr-Feier mit der Bischöfin absagen müssen. Ein Jahr Planung umsonst. Wie sieht ihr Alltag in der Krise aus?
Wilm: Ich bin sehr gefordert als Seelsorger. Ich muss den Leuten zuhören, den Nachbarn und Ehrenamtlichen und Mut zusprechen. An der Tür mit mehreren Metern Abstand oder über den Gartenzaun, auch am Telefon. Wir versuchen, medial jetzt einzusteigen. Das heißt, Andachten zu machen, die wir online stellen, um einfach in Kontakt zu bleiben.
Warum ist St. Pauli, der Kiez am Hamburger Hafen, anders gefordert als andere Quartiere?
Wilm: St. Pauli ist ein Stadtteil, wo sich die Menschen vor allem auf der Straße begegnen. Ich muss hier nur einmal um den Block herumgehen und hab so gleich viele Gespräche. Das macht eigentlich auch die Qualität aus von Sankt Pauli. Hier direkt vor meinem Haus ist normalerweise immer Betrieb. Die Leute hören Musik, unterhalten sich. Wer hier Anschluss sucht, der findet Anschluss. Auf St. Pauli kommen Menschen zusammen und feiern. Mit Rausch und Ekstase und auch mit allen Abstürzen, natürlich. Doch jetzt herrscht Stille - da ist einem ganzen Stadtteil der Stecker gezogen.
Ihre Gemeinde hat schon viele Krisen überstanden. Die Ausschreitungen auf dem G20-Gipfel, oder als Sie ihre Kirche 2013 für 80 Lampedusa-Flüchtlinge aus Afrika öffneten...
Wilm: Es war aus dem Moment heraus, eine spontane Situation. Plötzlich die Kirchentür aufzumachen, weil es draußen anfängt zu nieseln. Das konnte ich wirklich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Die Flüchtlinge sollen jetzt da draußen im Freien liegen, die Überlebenden einer humanitären Katastrophe? Und dann wurde aus der Hilfsaktion eine richtige Bewegung im Stadtteil: Lampedusa Supporter, Nachbarn und Freunde, viele haben geholfen. Und dadurch konnten wir diese Gastfreundschaft hier leben.
Spontane Hilfe ist eine Seite. In ihrem Buch beschreiben Sie auch die andere, die Gewalt auf St. Pauli. Wie damit umgehen, ohne zu verzweifeln?
Wilm: Gewalt ist ganz furchtbar. Das erlebe ich täglich auf Sankt Pauli. Das war sicher früher noch viel schlimmer, als ich anfing vor 18 Jahren. Ich erlebe, dass Menschen sich selber und anderen Gewalt antun. Dass man sich gegenseitig anschreit und streitet, dass Menschen sich mit Drogen und Alkohol zugrunde richten. Auch häusliche Gewalt. Das ist hier sehr ungeschminkt. Aber man muss lernen, damit umzugehen. Damit man nicht innerlich erschrickt, erstarrt und auch nicht völlig zumacht, nicht verbittert, sondern immer noch mit einem liebenden Herzen durch diesen Stadtteil geht. Das ist schon ein geistlicher Kampf. Ein Glaubenskampf. Das ist wirklich ein Flehen zu Gott in allen Situationen, dass ich genug Kraft habe. Ich pflege aber den Draht nach oben und manchmal rufe ich die Engel herbei (lacht). Ist manchmal die Frage: rufe ich zuerst die Engel herbei und dann die Polizei, oder andersherum.
Oft stehen vor dem Pastorat Leute in Not, die Hilfe suchen. Sie müssen dann schnell reagieren. Was ist Ihre Devise und was trägt Sie?
Wilm: Wir versuchen, eine Kirche zu sein, die dem Anspruch von Jesus von Nazareth gerecht wird. Sind wir manchmal nicht. Aber sich das einzugestehen, ist gar keine Schande. Gottes Geist wirkt und das, was Gott ist, ereignet sich in der Begegnung mit Menschen, zwischen den Menschen. Das kann ganz unterschiedlich sein. Das Entscheidende ist, dass wir genug Platz lassen, damit Gott handelt, damit Gott wirkt. Das ist auch meine Theologie.
In ihrem Buch schildern Sie Situationen, in denen Sie an Ihre Grenzen kommen. Trotzdem suchen sie immer auch die Chance. Welchen Weg sehen Sie in der Corona-Krise?
Wilm: Wir alle könnten eine Reise nach innen machen und uns dann nochmal ein bisschen aufräumen. Wir sind so busy, und jetzt ist unser unsere ganze Geschäftigkeit einmal ausgebremst. Wir sind jetzt sozusagen alle im Kloster auf Zeit. Und was macht man im Kloster? Beten, meditieren! Ich glaube, früher oder später müssen wir uns selbst begegnen. Auch wenn die Konfrontation dann mal wehtut. Es gibt so eine innere Freiheit zu entdecken und die kann uns stärken. Wir brauchen ein Gegengift gegen diese ganze Verrücktheit, die uns ja auch so entgegenkommt: die Hysterie, die Angst, die Panik, die aufsteigt. Da brauchen wir schon was zum Festhalten. Und ich glaube, das können wir im Gebet finden. Da glaube ich, entdecken wir eine neue Freiheit.