Deutschland und andere Länder sind im Bann eines Virus, das viele Menschenleben bedroht. Das öffentliche Leben steht still, um Risikogruppen zu schützen und das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Es ist für die meisten eine nie dagewesene Ausnahmesituation, die auch den Deutschen Ethikrat auf den Plan ruft. In für seine Verhältnisse kurzer Zeit hat er eine Stellungnahme zu zwei der derzeit drängenden ethischen Dilemmata verfasst. In dem am Freitag veröffentlichten Papier lobt er im Grundsatz die deutsche Politik, verweist aber auch auf Fallstricke und mahnt ein Ausstiegsszenario aus dem dem derzeitigen Krisenmodus an.
Das interdisziplinäre Wissenschaftler-Gremium schreibt in der Stellungnahme, wesentlicher Orientierungspunkt für das Vorgehen in der kommenden Zeit sei die weitgehende Vermeidung von Triage-Situationen. Zugleich sollten aber die derzeit ergriffenen Maßnahmen - Stichwort Kontaktsperre - regelmäßig evaluiert werden, "um Belastungen und Folgeschäden so gering wie möglich zu halten". Freiheitsbeschränkungen müssten bald schrittweise gelockert werden, fordert das Gremium, ohne einen konkreten Zeithorizont zu nennen.
Erfolgsaussicht, Indikation und Patientenwille
Mit "Folgeschäden" meint der Ethikrat Beeinträchtigungen derjenigen, die in der Konsequenz der derzeitigen Maßnahmen leiden: Patienten, deren medizinische Behandlung derzeit ausgesetzt wird, von häuslicher Gewalt betroffene Frauen oder Personen in Einrichtungen wie etwa Pflegeheimen, denen Besuche vorenthalten werden. Auch auf die Folgen für die Wirtschaft und die Demokratie durch die Grundrechtsbeschränkungen weist das Gremium hin.
Spannungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen müssten fair ausgehandelt werden, sagte der Vorsitzende des Ethikrats, Peter Dabrock. Die Maßnahmen müssten nachvollziehbar sein. "Ungewissheit über das Ende solcher Maßnahmen führt mit zunehmender Dauer zur Entsolidarisierung und Demotivation", mahnt der Ethikrat.
Für die Triage - die Auswahl von Patienten bei nicht genug vorhandenen Krankenhauskapazitäten - entwickelte der Ethikrat selbst keine Kriterien, sondern verwies auf Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften. Intensiv- und Notfallmediziner hatten am Donnerstag ein Papier vorgelegt, das als Kriterien Erfolgsaussicht, Indikation und Willen des Patienten nennt.
"Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten"
Der Ethikrat betont, dass der Staat keine Handlungsmaxime für diese schwierigen Situationen vorgeben sollte. "Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten, und er darf deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist", heißt es in seiner Stellungnahme. "Selbst in diesen schlimmen Situationen, mit denen zu rechnen ist, muss das Vertrauen in Rechtsordnung, Gesundheitssystem und Arztberuf verteidigt werden", sagte Dabrock dem epd.
Der Ethikrat hält aber fest, dass eine Auswahl von Patienten vor der Behandlung ("ex ante") bei zu wenig verfügbaren Beatmungsgeräten unter ethischen Gesichtspunkten erfolgen kann. Eine Auswahl "ex post", bei der die Behandlung eines Patienten abgebrochen würde zugunsten eines anderen, dessen Heilung erfolgversprechender ist, hält das Gremium dagegen für problematisch.
Nicht zuletzt mahnt der Ethikrat politische Entscheidungen an, an denen auch die Parlamente mitwirken und Wissenschaftler allein eine beratende Funktion haben. Es widerspräche dem Grundgedanken demokratischer Legitimation, politische Entscheidungen schlicht an die Wissenschaft zu delegieren, heißt es. "Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch-legimitierten Politik", lautet der Schlusssatz der Stellungnahme.