Göttingen (epd). Der Göttinger evangelische Theologe und Sozialethiker Christian Polke fordert nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Sterbehilfe mehr Geld für Palliativmedizin, Pflegeeinrichtungen und die sozialpsychologische Begleitung sterbender Menschen. "Niemand darf sich aus einer Notlage oder aus Ängsten heraus zum Suizid gedrängt fühlen", sagte der Professor am Sonntag dem Evangelischen Pressedienst (epd). Auch pflegende Angehörige müssten unterstützt werden. Zugleich sei der Gesetzgeber nun verpflichtet, seine Bedenken gegen die "geschäftsmäßige" Sterbehilfe rechtlich konkreter zu fassen.
Polke zufolge sind Beratungspflichten, hohe Auflagen für Sterbehilfe-Vereine und eine bessere schmerzmedizinische und sozialpolitische Flankierung nötig. Statt eines Verbotes solcher Vereine sei eine gute Sozial- und Gesundheitspolitik gefragt.
Das höchste deutsche Gericht hatte in der vergangenen Woche das Gesetz zum "Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" gekippt. Das 2015 beschlossene Gesetz sei verfassungswidrig, weil es das allgemeine Persönlichkeitsrecht einschränke. Dieses Recht umfasse auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben und das Recht, sich dabei Hilfe von Dritten zu suchen, hieß es zur Begründung. Polke sprach von einem "klaren, transparenten und rechtlich in sich schlüssigen Urteil".
Aus Sicht des Ethikers stehen Gesellschaft und Kirche jetzt vor der Aufgabe, gegen die Tabuisierung von Tod und Sterben anzugehen und einen offenen Austausch darüber zu führen. "Angst ist weder in der Politik noch in der eigenen Lebensführung ein guter Ratgeber", sagte Polke, der auch Mitglied im Zentrum für Medizinrecht der Uni Göttingen ist. "Es wäre jedenfalls ein Schaden, wenn man glaubte, wir bräuchten uns fortan mit Autonomie am Lebensende nicht mehr auseinanderzusetzen."
Skeptisch äußerte sich Polke zu der von Kirchen und Ärzten geäußerten Kritik, das Urteil werde zu einem Dammbruch führen und Selbsttötungen gesellschaftsfähig machen. "Dammbruch-Argumente sind immer mit Vorsicht zu genießen, sie müssen nämlich empirisch gedeckt sein", sagte er.
Aus christlicher Sicht sei das Leben ein Geschenk Gottes, mit dem der Mensch selbstverantwortlich umgehen dürfe, sagte Polke. "Man kann nicht tiefer fallen als in die Hände dessen, der uns alle geschaffen und gewollt hat. Wer das glaubt, wird versuchen, individuelle Selbstbestimmung zu achten, aber doch auch die überzogenen Erwartungen an menschliche Autonomie ernst zu nehmen." In gewisser Weise bestimme der Mensch in Sterben und Tod nicht mehr über sich selbst.