"Ihr seid schwul. Schwule. Schwuchteln" rufen acht Jugendliche meinem Mann und mir Pfingstsamstagabend nahe unserer Wohnung hinterher. Dann lachen sie. Einer ruft lauter: "Schwule Schwuchteln!" Früher haben wir noch sehr viel hässlichere, vor allem verletzendere Wörter hören müssen. Die Zahl der Übergriffe auf Homosexuelle hat jedoch wieder zugenommen. Manche werden zusammengeschlagen. Aus Scham bleiben aber viele Verbrechen im Dunkeln.
2019 ist ein so wichtiges Jahr für die queere Community. Vor 50 Jahren kommt es in der Schwulenbar "Stonewall Inn" in der Christopher Street in New York zur Straßenschlacht, die als die Stonewall Riots in die Geschichte eingehen sollte. Stonewall Inn markiert den Beginn der Emanzipation queerer Menschen, egal ob schwul, lesbisch, bi oder trans. An jenem Abend setzten sich die Gäste erfolgreich gegen die Polizeiwillkür zur Wehr. Das wird zum Ausgangspunkt einer Bewegung, die jährlich weltweit mit dem Christopher Street Day gefeiert wird. Mutig und selbstbewusst fordern Queers in Metropolen und Städten die Gleichberechtigung ihrer Liebe.
Bei uns wurde der Paragraph 175, der schwule Kontakte seit der Kaiserzeit generell unter Strafe gestellt hat und später für Homosexuelle ein anderes Schutzalter als für Heterosexuelle festlegte, erst 1994 abgeschafft. Heute sind gleichgeschlechtlich Liebende bei uns zumindest rechtlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen. "Ab heute bin ich einer von euch", hatte ich mich am 30. Juni 2017 darüber gefreut, mit dem Beschluss des Bundestages für die "Ehe für alle" mich nicht länger als Bürger zweiter Klasse fühlen zu müssen. Weltweit betrachtet sind queere Menschen täglicher Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt, werden verfolgt und auch mit der Todesstrafe bedroht.
Und welche Rolle spielte die evangelische Kirche? Keine rühmliche. Homosexualität wurde lange Zeit verteufelt. Besonders Vertreter*innen christlich-evangelikaler Kirchen machen sich auch heute noch die Auffassung zu eigen, Homosexualität sei eine psychische Erkrankung und deshalb heilbar. Vereinzelt werden sogenannte Konversionstherapien angeboten. Gut, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sie noch in diesem Jahr verbieten lassen will. Mittlerweile werden in zehn von 20 evangelischen Landeskirchen gleichgeschlechtliche Paare getraut. Das heißt aber auch: in der Hälfte aller evangelischen Landeskirchen werden Lesben und Schwule weiter diskriminiert.
Die Polizei, die politischen Parteien oder die Gewerkschaften sind alle längst auf dem CSD vertreten. Es wird Zeit, dass die evangelische Kirche sich auch an den Demonstrationen des Christopher Street Day beteiligt, so wie beispielsweise im vergangenen Jahr die Evangelische Kirche in Berlin. Damit Menschen sich informieren können, um auch zu verstehen, dass sich die evangelische Kirche für sie mit den Jahren geöffnet hat. Dank einzelner mutiger Kämpfer*innen innerhalb der eigenen Reihe, dank der ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK), die seit 41 Jahren besteht.
Zu oft wurde Menschen in Not die Kirchentür vorm Kopf zugestoßen. Dabei muss Kirche da sein und Halt geben. Homosexuelle Jugendliche nehmen sich auch heute noch öfter das Leben als heterosexuelle Gleichaltrige. Auch wenn ältere Menschen endlich ihre Homosexualität leben wollen, sollen sie sich nicht weiter einsam fühlen müssen. Die Verletzungen sollen aufhören, alte Wunden sollen heilen können.
In meiner evangelischen Gemeinde in Frankfurt haben wir alle gleichberechtigt unseren Platz. Da feiern wirklich alle zusammen die kirchlichen Feste und 50 Jahre Stonewall Inn und den CSD. Ganz selbstverständlich, voller Respekt und Zuversicht und vor allem miteinander. Wie könnte es auch anders sein? "Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm." (1 Joh 4,16b).