Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Bürger dazu aufgefordert, sich stärker in die aktuellen Debatten im Land einzumischen. Im Grundgesetz stehe nicht "Alles Gute kommt von oben", sondern "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", sagte Steinmeier bei einem Fest im Park von Schloss Bellevue in Berlin. Zugleich forderte er die Einhaltung von Regeln im demokratischen Diskurs und benannte dafür zwei Schlagworte: Anstand und Vernunft. Das Versprechen des Grundgesetzes sei auch ein Versprechen zwischen den Bürgern, sich nicht zurückzuziehen, sondern Verantwortung zu übernehmen, sagte Steinmeier. Die deutsche Verfassung verbriefe die Freiheit zur eigenen Meinung und zum eigenen Lebensentwurf, sagte er.
Freiheit brauche aber auch Regeln, ergänzte der Bundespräsident, der aus Anlass des 70. Jahrestags der Verkündung des Grundgesetzes 200 Bürger, die Vertreter aller Verfassungsorgane und Personen des öffentlichen Lebens zu Kaffeetafeln eingeladen hatte. Das Grundgesetz sage auch, was nicht verhandelbar, "unantastbar" sei, sagte er in Anspielung auf Artikel 1 der Verfassung, der die Würde des Menschen als unantastbar festschreibt. "Bei aller Freiheit und selbst im Eifer des Streits muss etwas gewahrt bleiben, das sich vielleicht in zwei Begriffen zusammenfassen lässt - Anstand und Vernunft", sagte das Staatsoberhaupt. Ohne diese gelinge keine demokratische Debatte.
Lilie: "Wir brauchen frische Ideen"
Er wolle nicht, dass Hass und Feindseligkeit wie Gift in die Debatten sickere und dass die Unterscheidung von Fakt und Lüge verloren gehe. Steinmeier forderte dazu auf, miteinander im Gespräch zu bleiben und sich in demokratische Prozesse einzumischen. Wer sich zurückziehe, bleibe mit seinen Fragen allein. "Ohnmacht ist Gift für die Demokratie", sagte er.
An den insgesamt 20 Tafeln im Park des Berliner Amtssitzes von Steinmeier hatten auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesratspräsident Daniel Günther (alle CDU) und Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle Platz genommen, um sich mit den Bürgern auszutauschen. Moderiert wurden die Tafeln von Journalisten, Politikern und auch Vertretern von Religionsgemeinschaften, darunter der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs.
Auch Diakoniepräsident Ulrich Lilie moderierte eine der Runden. In einem schriftlichen Statement hatte er zuvor vor Gefahren für die Demokratie durch Populismus, aber auch durch Menschen, die sich aus dem öffentlichen Diskurs verabschieden, gewarnt. Das untergrabe Demokratie. "Wir brauchen frische Ideen und Impulse auf allen Ebenen politischen Handelns, damit sie lebendig bleibt", erklärte Lilie.
Zum Jubiläum der Verfassung wurde erneut die Forderung laut, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, unter anderem von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD). "Kinder haben das Recht auf eine persönliche Entwicklung, sie haben eigenen Bedürfnisse und brauchen deshalb besondere Rechte gegenüber dem Staat", sagte sie. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) äußerte sich in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" dagegen auch mit Verweis auf das Beispiel Kinderrechte skeptisch über immer weitere Ergänzungen des Grundgesetzes. "Dadurch wird eine Spirale in Gang gesetzt, die das Grundgesetz aufbläht mit der Folge, dass immer mehr Gestaltungsfragen durch Verfassungsrecht und -interpretationen dem demokratischen Gesetzgeber entzogen werden", erklärte Schäuble.