Landesbischof Ralf Meister trägt eine tintenblaue Jeans und ein gemustertes Hemd unter dem Jackett. "In solcher Kleidung hätte ich zu keinem anderen kirchlichen Termin gedurft", sagt er schmunzelnd. Doch dieser kirchlicher Termin ist eben ganz besonders. Er findet mitten in einem kleinen Wald nahe des Dorfes Aerzen bei Hameln statt. In der Gaststätte "Edenhall" geht es um genau das, was die hannoversche Landeskirche in diesem Jahr zu ihrem Schwerpunkt gemacht hat: um Freiräume.
In diesem Sinn hat auch Gemeindepastor Christof Vetter den Stammtisch ins Leben gerufen. An jedem letzten Donnerstag im Monat treffen die Mitglieder seiner Gemeinde in einem der örtlichen Wirtshäuser auf prominente Menschen aus der Umgebung. Reden wollen sie über alles, was "auf der Seele brennt", sagt Vetter. Der Pastor wünscht sich aber auch Widerspruch und konstruktiven Streit: Ähnlich wie die Kirche kann auch die Kneipe ein Ort sein, um seinen Empfindungen freien Lauf zu lassen.
Unter dem Leitmotiv "Zeit für Freiräume" wollen die mehr als 1.300 evangelischen Gemeinden zwischen Hann. Münden und Cuxhaven neue Wege suchen, um ihre hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter zu entlasten. Viele von ihnen klagten zwar über Erschöpfung, wollten aber nichts von ihren Aufgaben aufgeben, sagte Meister. Die meisten seien auf ihre vielfachen Aktivitäten stolz. Andere fühlten sich sogar gekränkt, wenn sie ihre Arbeit aufgrund fortschreitenden Alters verringern sollten. "Doch in der Bibel steht, der Mensch soll sich an einem Tag in der Woche ausruhen", betonte Meister. Deshalb will die Kirche ein Jahr lang auf große Events verzichten. "Es geht darum, etwas anders zu machen als bisher."
Mehr als 50 Menschen versammeln sich an diesem Abend mit ganz unterschiedlichen Anliegen in der Kneipe. Die meisten von ihnen sind über 70 Jahre alt. Manche berichten von Gottesdiensten in ihren Kirchen, zu denen nur zwei oder drei Menschen kämen. "Ist das vergeudete Zeit?", fragt ein älterer Mann, der sich in einem der Nachbardörfer als Lektor betätigt.
Ausführlich wird darüber geredet, was die Kirche anders machen müsste, um den Menschen auch in guten Zeiten beizustehen. Denn in Notfällen, bei Schicksalsschlägen und "Spontan-Katastrophen", wie Bischof Meister sie nennt, seien die Kirchen auch heute noch voll. Eine Frau, die aus dem Schuldienst kommt, warnt hingegen davor, die Qualität der Gottesdienste an Besucherzahlen zu messen. Den Pastoren mehr Zeit und Raum für die Vorbereitung zu geben, findet sie dennoch gut. Die Entschleunigung setze oft wieder Kreativität frei.
In der Aerzener Gemeinde mit 3.500 Mitgliedern kommen laut Pastor Vetter jede Woche bis zu 400 Menschen in die Gottesdienste, Taufen und Beerdigungen mitgezählt. Manche Mitglieder sind seit Jahrzehnten aktiv, so wie die 85-jährige Ursula Klingebiel. Die ehemalige Musiklehrerin hat sich zwanzig Jahre lang in der Gemeinde engagiert, als Chorleiterin und im Kirchenvorstand. Seit zehn Jahren wohnt die zierliche Frau in Bad Pyrmont und muss wegen gesundheitlicher Probleme inzwischen kürzer treten. Doch eines ist ihr wichtig: jede Woche einmal ins Altenheim zu gehen und mit den Bewohnern zusammen zu singen. "Diese Menschen sind mir ans Herz gewachsen", sagt Klingebiel.
Zum Stammtisch in Aerzen ist auch Klingebiels 84-jähriger Freund gekommen. Sie habe ihn "mitgeschleppt", sagt er. "Aber ich bereue es nicht". Aus der Diskussion habe er vor allem den Wunsch mitgenommen, dass beide christliche Konfessionen zukünftig besser zusammenhielten. "Dass manche immer noch Unterschiede sehen, das begreife ich nicht."