epd: Kirche mit den Menschen, für den Menschen: Unter diesem Motto haben Sie auf der Synode über die Zukunft der Kirche diskutiert. Wie soll das konkret aussehen?
Karsten Wolkenhauer: Anhalt wird alles beides sein müssen. Wir sind Kirche für unsere Mitglieder, wir sind Kirche mitten in einer mehrheitlich atheistischen Gesellschaft. Wir werden uns als Landeskirche nochmal neu erfinden. Wir haben einen hohen, altersbedingten Mitgliederschwund, unsere Ehrenamtlichen können gar nicht mehr alles an bisheriger Arbeit leisten.
In der vergangenen Woche haben die beiden großen Kirchen die aktuelle Mitgliederstatistik veröffentlicht. Sie zeigen: Der Abwärtstrend geht weiter und wird auch in Zukunft weitergehen. Können Sie sich überhaupt gegen diesen "Megatrend" stemmen?
Wolkenhauer: Ich habe große Zweifel daran, dass die Mitgliederzahl eine geeignete Steuerungskennzahl für Kirche ist. Immer wieder denke ich: Nein, das ist sie nicht. Denn was sagt die Anzahl der Mitglieder wirklich aus? Ich kann dieser Kennzahl nicht allzu viel entnehmen. Natürlich ist damit auch der Verlust von Finanzmitteln verbunden. Für mich zählt aber vor allem, dass damit der Verlust von engagierten Menschen und von Möglichkeiten verbunden ist.
Sich gegen die sinkenden Zahlen als Zahlen zu stemmen, bringt meiner Meinung nach gar nichts. Aber überzeugende Arbeit mitten in der Gesellschaft zu leisten, darauf kommt es an, ganz unabhängig von den Zahlen. Ich bin niemand, der sagt, unsere Mitgliederzahlen müssen um jeden Preis hoch sein, und dann sind wir am Ziel. Ich finde, wir müssen vor allem hochwirksam in der Gesellschaft sein.
Die Landeskirche schrumpft weiter, bis 2035 sollen es nur noch 15.000 Mitglieder sein. Hat sich damit die Diskussion um die Selbstständigkeit nicht von selbst erledigt?
Wolkenhauer: Diese Kennzahl ist kein Grund, an unserer Selbstständigkeit zu zweifeln. Sie ist ein Grund, uns zu organisieren und zu fokussieren.
Anhalt ist offenbar sehr streitlustig: Die Neuwahl des Kirchenpräsidenten brauchte drei Anläufe, jetzt haben Sie Ihre juristische Oberkirchenrätin vor die Tür gesetzt. Kann die anhaltische Kirche auch an sich selbst scheitern?
Wolkenhauer: Ich sehe keine Anzeichen für Streitlust. Gerade diese Wahlprozesse zeigen doch, dass wir als Kirche sehr gut miteinander im Gespräch sind und dass wir genau der diskursive Raum sind, den es in der Gesellschaft kaum noch gibt. Wir können zu unterschiedlichen Vorstellungen und Ergebnissen kommen, mit freundlichen Worten und in geordneten, demokratischen Verfahren. Ich finde, das ist eine Auszeichnung für Anhalt.
Aktuell haben Sie 210 Kirchengebäude. Die Zahl werden Sie nicht halten können. Was wird mit den aufgegebenen Gebäuden passieren?
Wolkenhauer: Das wird uns die nächsten Jahre beschäftigen müssen. Jedes Gebäude hat eine individuelle Geschichte. Jede Gemeindesituation ist individuell. Das werden wir uns sehr genau anschauen müssen. Ich halte gar nichts von Rasenmäherschnitten und Gießkannenmethoden.
"Ich halte gar nichts von Rasenmäherschnitten und Gießkannenmethoden."
Da wird es eine Menge Einzelfälle zu prüfen geben, denn auch die Situation der Ehrenamtlichen vor Ort, die sich zutrauen, so eine Kirche in die Zukunft zu begleiten, ist überall unterschiedlich. Aktuell sehe ich keine Nutzung, die ich von vornherein ausschließen würde. Und bei aller menschlichen Sorge: es sind Gottes Häuser.
Wie wird die anhaltische Kirche ihr Gesicht in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verändern - was werden die wichtigsten Änderungen sein?
Wolkenhauer: Ein großes Thema ist Wirksamkeit. Wir müssen uns sehr gut überlegen, wie weit wir mit unseren Finanzen kommen. Wir brauchen einen neuen Personalstellenplan. Ich sehe kommen, dass wir viel mehr auf übergeordneter Ebene zusammen machen. Es können nicht mehr alle alles gleichzeitig tun und auf drei oder mehr Ebenen verwalten. Es bleibt die große Herausforderung, dass die Identität in Anhalt vor allem an die historischen Kirchenkreise gebunden ist. Daraus eine gemeinsame anhaltische Identität zu entwickeln, das wird ein sehr anregender und gemeinschaftsfördernder Prozess werden.
Müssen sich auch Gemeinden darauf einstellen, dass Angebote wegfallen werden?
Wolkenhauer: Wenn keine Menschen da sind, die diese Angebote betreuen, werden wir sie auf Dauer nicht aufrechterhalten können. Wir erleben das ja bereits vielerorts. Und das ist meines Erachtens die größte Herausforderung der kleiner werdenden Zahl an Mitarbeitern, dass immer weniger Ehrenamtliche für immer mehr Arbeit vor Ort zur Verfügung stehen, etwa in den Gemeindekirchenräten oder in dem regen Veranstaltungsleben, das wir haben.
Glauben Sie, dass die Mehrheit der Kirchenangehörigen da mitgehen wird? Sind die meisten nicht eher in den kulturprotestantischen Status quo verliebt?
Wolkenhauer: Mir begegnet überall eine große Bereitschaft, gute Wege zu gehen. Alle wissen, es muss sich etwas ändern an den Erwartungen, die wir haben, bedienen und erzeugen. Anhalt ist zu klein, um darauf zu warten, dass die Lage sich schon ändern wird irgendwann. Jetzt ist die Zeit!
Finanzzahlen sind gute Indikatoren für Entscheidungen, wenn sie nicht die einzigen sind. Wir leisten uns aktuell den Luxus, keinen Stellenplan als Landeskirche zu haben. Das werden wir rasch ändern müssen. Hier sind Klarheit und Mut nötig.
Ist der Mitgliederschwund ein unfreiwilliger Motor für die Ökumene? Müssen Sie zusammenarbeiten, weil es gar nicht mehr anders geht?
Wolkenhauer: Gewiss kein unfreiwilliger. Wir werden schon deswegen mehr zusammenarbeiten, weil wir hier Kirche mitten in einer Gesellschaft sind, die nicht durch hohe Kirchenmitgliedschaft geprägt ist. Wir bewegen uns auf gesellschaftliche Herausforderungen zu, in denen wir als Kirchen viel stärker gemeinsam wahrgenommen werden.
Auch das politische Umfeld wird schwieriger. In Anhalt liegt die AfD bei allen Abstimmungen vorn. Was bedeutet das für die Kirche?
Wolkenhauer: Das ist eine Frage, die mich seit der Bundestagswahl sehr beschäftigt. Wenn die Ergebnisse sich auch bei den Landtagswahlen niederschlagen, dann wird das viele Menschen auf die Beine bringen, die ein anderes Verständnis von Demokratie und politischem Engagement haben als die Parteiprogramme. Wir Kirchen sind eine der gesellschaftlichen Kräfte, die in der großen Breite im Land aktiv sind und in ihren Reihen ein enormes Spektrum an Meinungen aushalten und zusammenhalten kann. Gemeinsam mit anderen arbeite ich dafür, dass Kirche sich einbringt und ein offener Diskursraum ist, als der sie viele Jahre in diesem Land sehr gefragt war.