Die Digitalisierung nimmt weltweit in allen Lebensbereichen zu. Wird sich dadurch die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnen?
Klaus Seitz: Es deutet derzeit vieles darauf hin, dass der digitale Wandel die soziale Kluft innerhalb wie zwischen den Ländern vertiefen wird. Auch die Weltbank räumt ein, dass sich die Erwartung, die Digitalisierung könnte breitenwirksame Entwicklungsimpulse in den ärmeren Ländern auslösen, bislang nicht erfüllt habe. Die Vorteile digitaler Technologien kämen bisher in erster Linie den wenigen gut ausgebildeten Menschen und der etablierten Elite zugute, konstatiert ein Weltbankreport. Das liegt auch daran, dass die Einkommenskluft eng mit einer digitalen Kluft gekoppelt ist. Fast zwei Milliarden Menschen leben ohne Mobiltelefon, rund vier Milliarden haben keinen Zugang zum Internet.
Die Digitalisierung scheint für arme Länder auch große Chancen zu bieten. So ist Ostafrika ein Pionier bei innovativen Bezahlsystemen per Handy, und Konzerne schaffen Jobs in Call-Centern in Indien. Wie sehen Sie das?
Seitz: Digitale Technologien haben ein enormes Potenzial, auch armen und benachteiligten Menschen den Zugang zu Dienstleistungen, Information und politischer Teilhabe zu erleichtern. Bildungsangebote für Kinder oder Apps mit Gesundheitsinformationen für Schwangere in abgelegenen Gebieten sind von unschätzbarem Wert. Ein guter Teil der neuen digitalen Arbeitsplätze freilich ist jedoch schlecht bezahlt, und die Arbeitsbedingungen in Call-Centern und digitalen Plattformen sind häufig miserabel. Und durch Digitalisierung und Automatisierung werden Millionen von Arbeitsplätzen in den traditionellen Sektoren wegfallen.
"Die Technologie allein wird's nicht richten"
Worauf muss sich die Entwicklungspolitik angesichts der Digitalisierung einstellen? Welche Fehler dürfen nicht gemacht werden?
Seitz: Die Digitalisierung wird die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen verändern. Dies dürfte in absehbarer Zeit auch für die armen Länder gelten. Damit diese Veränderungen auch zu Verbesserungen führen und einer nachhaltigen Entwicklung dienen, muss man aber frühzeitig die politischen Rahmenbedingungen stellen. Die Technologie allein wird's nicht richten. Im Gegenteil: Wenn der digitale Wandel nicht vernünftig politisch reguliert wird, werden die Risiken unkalkulierbar. Man denke nur an die Macht, die transnationale Internetkonzerne bereits heute haben.
Wenn die analoge Basis nicht stimmt, wird auch die digitale Revolution keinen gesellschaftlichen Fortschritt im Süden der Welt bringen. Eine Infrastruktur für alle, Arbeitsplätze für die Armen und Rechtsstaatlichkeit sind notwendige Bedingungen. Wir sollten auch nicht der Illusion verfallen, dass eine digitale Ökonomie automatisch weniger Ressourcen verbraucht. Ihr Energie- und Rohstoffbedarf ist enorm. Die Aufgabe, die Wirtschaftsweise klimafreundlich, ökologisch und menschenrechtlich zu gestalten, gilt erst recht für die digitale Ökonomie.