Ungefähr 250 Menschen waren zum dritten öffentlichen Hearing der Aufarbeitungskommission zur Aufklärung sexuellen Kindesmissbrauchs gekommen. An diesem Tag waren es Bischöfin Kirsten Fehrs für die evangelische Kirche und Bischof Stephan Ackermann für die katholische Kirche, die zuhörten, was Betroffene sexualisierter Gewalt in ihrer Institution erlebt haben und weiterhin erleben.
Es war ein Tag, der für diejenigen ein Ventil war, die nach Jahrzehnten des Schweigens, nach Jahren des Wartens auf Antwort, das Wort ergreifen durften. Diesmal konnte niemand ihre Email unbeantwortet lassen und die Türen verschlossen halten und so tun, als wäre da keiner.
Mindestens acht Stunden, vom Morgen bis in den Nachmittag hinein, saßen die beiden Kirchenoberhäupter in der ersten Reihe vor der Bühne und hörten sich das an, was Betroffene auf der Bühne und aus dem Publikum zu sagen hatten.
Kirsten Fehrs hat das Thema Missbrauch in der Nordkirche zur Chefsache gemacht und einen unabhängigen Bericht anfertigen lassen. Er ist beispielhaft, weil er Parallelen in den Tatvorgängen und der Art aufzeigt, wie Menschen in der Kirche mit den Betroffenen umgegangen sind. Zudem haben die Autorinnen aufgezeigt, was zu tun wäre, um die Situation für Betroffene besser zu machen. Das war im Jahr 2013.
Bei einigen Landeskirchen habe ich nachgefragt: "Haben Sie den Bericht gelesen?" Meistens lautete die Antwort: "Nein." Wie traurig. Und so kommt es, dass die Menschen an diesem 27. Juni 2018 ähnliche und gleiche Geschichten erzählen, wie sie der Nordkirchenbericht auch erzählt: Geschichten des Leids und der missglückten Aufarbeitung.
"Sie haben Mord begangen, Herr Ackermann", war das Schärfste, was ein Mann äußerte, der erzählt, dass er jahrelang in einem Heim von Nonnen und Priestern vergewaltigt worden sei. Eine 13-Jährige habe er erhängt an einem Balken gefunden, erzählt der Mann weiter, während er sich Richtung Bischof Stephan Ackermann in die vorderen Reihen vorarbeitet. Ein Zehnjähriger habe sich vor den Zug geschmissen.
"Es ist unerträglich für mich, dass sie auf der Bühne sitzen und reden dürfen", war etwas, das Kirsten Fehrs sich von einer Frau aus dem Publikum gefallen lassen musste, als sie nach einem ganzen Tag des Schweigens zum Abschluss der Veranstaltung gemeinsam mit Stephan Ackermann interviewt wurde.
Für die Bischöfin und den Bischof war es eine neue Erfahrung: sie durften bis zum Abend nicht sprechen – und als sie dann durften, glaubten viele im Publikum ihnen nicht, dass sie es ernst meinten. Das war deutlich zu spüren.
Somit haben der Bischof und die Bischöfin einen Tag lang das erlebt, was viele Betroffene mit den Kirchen seit Jahrzehnten erleben: Man hörte vielen Betroffenen bislang nicht zu, glaubt ihnen nicht, macht sie zu Nestbeschmutzern, die der Institution Kirche mit ihren Geschichten schaden könnten. Insofern war es ein Tag der Umkehr: die Vertreter der mächtigen Institution mussten schweigen, während die sonst im Schatten stehen, sprechen durften.
Hoffentlich wird es auch ein Tag der Umkehr in dem Sinne, dass die evangelische und katholische Kirche es wirklich schaffen den Menschen und ihrem Leid gerecht zu werden; indem sie ihnen endlich zuhören und sie ernst nehmen. In einem Jahr soll es eine weitere Anhörung der Aufarbeitungskommission geben, die prüfen will, ob die Kirchen sich bewegt haben.