Die Kameras laufen noch, als Margot Käßmann sich des Talars entledigt. In der Liveübertragung des Festgottesdienstes zum 500. Reformationsjubiläum in Wittenberg sieht das Fernsehpublikum die im Aufbruch befindliche Festgemeinde, hört das Orgelnachspiel. Die Liturgen und Prediger, darunter Käßmann, sind bereits aus der Kirche ausgezogen. Kaum hinter den großen Kameras angekommen, wechselt die zierliche Frau in den roten Wintermantel. Es ist kühl an diesem 31. Oktober 2017. Käßmann schlingt den Mantel eng um sich, wie man es tut, wenn man fröstelt. Das schnelle Ablegen des Talars wirkt dennoch wie ein vorweggenommener Abschied Käßmanns von ihrer Kirche, der spätestens heute greifbar wird.
Als Botschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war Käßmann zuletzt im Einsatz. Offiziell wird sie am 30. Juni mit einem Gottesdienst in Hannover in den Ruhestand verabschiedet. Am 3. Juni wird die Theologin, die zu den prominentesten, beliebtesten und zugleich polarisierensten Personen der evangelischen Kirche gehört, 60 Jahre alt.
Im Ruhestand als Privatperson
Käßmann, die derzeit noch einige dienstliche Termine absolviert, hat bereits angekündigt, sich dann zumindest für einige Zeit aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. "Jetzt sind andere dran", sagte sie im Gespräch mit dem epd. Öffentlichkeit heiße auch "ständige Auseinandersetzung, angreifbar zu sein und Kritik einzustecken". Im Ruhestand will sie Privatperson sein. Inzwischen ist Käßmann aus Berlin wieder nach Hannover gezogen.
Für Auseinandersetzungen hat die Theologin häufig gesorgt. Ihre Neujahrspredigt 2010 mit dem Satz "Nichts ist gut in Afghanistan" stieß nicht nur eine Diskussion um Deutschlands Beteiligung an einem Krieg an. Politiker echauffierten sich über die einfache, aber wirkungsvolle Aussage. "Ich bin in Rechtfertigungsdruck geraten, der mich atemlos gemacht hat", sagt sie rückblickend.
Auch die aus ihrer pazifistischen Grundhaltung heraus entstandene Empfehlung, für Taliban zu beten statt Kriege zu führen, erntete Kritik, Häme und Spott. Beim Kirchentag im vergangenen Jahr sah sie sich mit einem rechten Shitstorm im Netz konfrontiert, nachdem ein Zitat von ihr zur Familienpolitik der AfD aus dem Zusammenhang gerissen und hundertfach bei Twitter geteilt wurde. Käßmann polarisiert: Während sie bis heute bei Kirchentagen und anderen Veranstaltungen Säle und Hallen mit Fans füllte, reiben sich konservative Christen an ihr.
Geboren 1958 als Tochter eines Kfz-Mechanikers und einer Krankenschwester begann Margot Schulze 1977 ihr Theologiestudium. 1981 heiratete sie Eckhard Käßmann, mit dem sie vier Töchter hat, inzwischen aber geschieden ist. Auch er wird Pfarrer - und nur er bekommt eine Stelle, als sie beide ihr Studium abschließen. Käßmann, auch Kämpferin für Gleichberechtigung, wird zunächst nur Pfarrfrau. "Margot fühlt sich unwohl", berichtet Käßmanns langjähriger Berater Uwe Birnstein in einer in diesem Jahr erschienenen Biografie über diese Zeit.
Käßmann beginnt eine Dissertation und engagiert sich im Ökumenischen Rat der Kirchen. Anfang der 90er Jahre wird sie Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Hofgeismar, 1994 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags. 1999 wird sie in Hannover zur Bischöfin von Deutschlands größter Landeskirche gewählt. Zehn Jahre später wird sie erste Frau an der Spitze der EKD, bleibt es aber nur für wenige Monate. Nach einer Fahrt unter Alkoholeinfluss tritt sie im Februar 2010 von allen kirchlichen Ämtern zurück.
Ihre Glaubwürdigkeit und Beliebtheit scheinen nach dem Fehltritt sogar zu steigen. "Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand", verabschiedet sie sich. Wie bereits beim öffentlichen Umgang mit ihrer Brustkrebserkrankung 2006 fliegen ihr Sympathien zu. Käßmann wird zum Vorbild in Geradlinigkeit und Umgang mit Fehlern. 2016 wird wegen ihrer Fähigkeit, Menschen zu erreichen, sogar als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt gehandelt. Käßmann lehnt ab, bleibt als Gesicht des Reformationsjubiläums im Dienst ihrer Kirche.
Stehend applaudierend dankten die Mitglieder der EKD-Synode ihr dafür im November. Die EKD-Leitung übergab ihr dabei ein Geschenk - ein Buch, das Käßmann im Ruhestand, in dem sie lesen und schreiben will, wohl nicht als erstes lesen muss: die Bibel.