Herr Wörner, die evangelische Kirche feiert 500 Jahre Reformation. Warum feiern Sie mit?
Johann-Dietrich Wörner: Reformation bedeutet für mich, immer weiter zu denken, immer zu überlegen, was ist noch besser zu machen in der Zukunft. Was können wir als Menschen tun, um das Leben auf der Erde in einer friedlichen Gesellschaft voranzubringen? Unsere Gesellschaft braucht Reformen, unser Geist braucht Reformen – und die Basis dafür kann die Reformation darstellen. Sie gibt uns einen Wink, wie man sich weiterentwickeln kann auf individueller wie auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Welchen Wink?
Wörner: Wir brauchen Freiheit im Denken. Das ist ein entscheidender Punkt. Dem Denken sollten überhaupt keine Grenzen gesetzt werden. Dieses Recht steht jedem Menschen zu.
Wie wichtig ist die Freiheit im Denken für Ihre Arbeit?
Wörner: Für mich als Chef der ESA war anfangs die Frage: Wie kann ich meine Überzeugungen über die Freiheit des Einzelnen in einer veränderten Welt auch in das tägliche Geschäft einbringen? Ich habe es dann wie bei Jamsessions im Jazz versucht: Bei denen bringen sich die verschiedenen Spieler während des Spielens ein und entwickeln so das Stück eigentlich erst. Bei den "Jamsessions" in der ESA, die ich eingeführt habe, können alle Mitarbeitenden mitgestalten. Wir haben das inzwischen auch für Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa geöffnet.
Der Bruder der Freiheit ist der Zweifel.
Wörner: Dinge nicht automatisch zu übernehmen und zu sagen: "Es ist alles, wie es ist" – das ist für mich eine Grundvoraussetzung meiner Arbeit. Wir haben so viel dazugelernt. Nehmen Sie nur das geozentrische Weltbild, dass die Erde im Mittelpunkt ist. Danach kam das heliozentrische, da war plötzlich die Sonne im Mittelpunkt. Mittlerweile wissen wir, dass das auch nicht der Fall ist. Zweifeln, positiv verstanden, ist eine Triebfeder für die Wissenschaft.
Es gibt nicht wenige Menschen, die sagen, Naturwissenschaft und Glaube würden sich ausschließen. Stimmt das?
Wörner: Für mich sind Glauben und Wissen zwei ganz unterschiedliche Dinge. Und das Tolle dabei ist, dass wir das in einem Gehirn verbinden können – ohne einen Widerspruch. Wissenschaft ist für mich etwas, das dem Menschen innewohnt, nämlich die Neugier, Dinge zu verstehen, zu beschreiben, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, weiter zu gehen. Glauben hingegen bedeutet für mich eine Positionierung, die mit Wertegerüsten zusammenhängt, mit Vertrauen. Und das Schöne ist, dass man beides verbinden und gegenseitig nutzbar machen kann.
"Wenn der Gesichtskreis sich zu einem Standpunkt verändert, dann hat der Kreis den Radius Null"
Für Sie als Raumfahrtexperte ist der Himmel wahrscheinlich noch viel größer als für die meisten anderen Menschen. Würden Sie Gott dort suchen?
Wörner: Juri Gagarin, der erste russische Kosmonaut, hat ja gesagt, dass er Gott im Weltraum nicht gesehen hat. Man darf diese beiden Welten – Wissenschaft und Glauben – aber nicht auf diese Weise zusammenführen. Wenn ich mittels Wissenschaft versuche, Glauben zu erklären, dann komme ich immer dahin, dass ich sage: Glauben ist alles das, was ich nicht beschreiben kann. Und das ist mir zu wenig. Glauben ist mehr. Glauben kann ich auch beschreiben. Und ich würde deshalb Gott auch nicht an einer bestimmten Stelle suchen, sondern in mir selbst. Aber ich brauche ihn nicht zu suchen. Ich weiß, er ist da! Er ist "über All", überall!
"Hier stehe ich und kann nicht anders", hat Martin Luther gesagt. Sie sind auch ein gefragter Schlichter bei Konflikten wie dem Flughafenausbau in Frankfurt oder Stuttgart 21. Wie würden Sie das Spannungsfeld zwischen Beharrungsvermögen und Kompromissbereitschaft beschreiben?
Wörner: Albert Einstein hat mal sinngemäß gesagt, dass man sich – wie beim Fahrradfahren – bewegen muss, um in der Balance zu bleiben. Ich glaube, Standhaftigkeit kann schnell missverstanden werden: Wenn der Gesichtskreis sich zu einem Standpunkt verändert, dann hat der Kreis den Radius Null. Natürlich sollte man Werte haben. Und diese Werte sollten nicht Kompromissen zum Opfer fallen, das akzeptiere ich nicht. Aber Meinungen kann man sehr gut in eine Diskussion einbringen und gegebenenfalls auch ändern. Das ist nicht nur legitim, sondern eine Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft: Die Balance zwischen einem eigenen Wertegerüst und einer gemeinsam getragenen Entwicklung.
Die Bibelübersetzung von Martin Luther war eine der Ersten ins Deutsche und die am weitesten verbreitete. Wie schätzen Sie als Wissenschaftler ihre Bedeutung ein?
Wörner: Wenn wir heute als Wissenschaftler oder Ingenieure hochtechnologische, komplizierte Produkte der Öffentlichkeit erklären wollen, geht es uns ganz ähnlich wie Martin Luther. Dann macht es keinen Sinn, mit Formeln um uns zu werfen und in die Tiefen der Themen hinabzusteigen. Sondern wir müssen sie transformieren in Begrifflichkeiten, die verstanden werden, ohne den Inhalt dabei zu verleugnen oder zu verändern.
Luther wird gern der Ausspruch vom Apfelbäumchen zugeschrieben, das er heute noch pflanzen wolle, wenn morgen die Welt unterginge. Was verbinden Sie damit?
Wörner: Die Welt wird untergehen. Wir wissen genau, dass die Erde nicht ewig existieren wird. Aber deshalb jetzt nichts mehr zu machen, wäre vollkommen verkehrt. Wir haben ein Leben auf der Erde, wir können sie gestalten. Und wir können die Erde vor einem früheren Ende schützen. Insofern ist das für mich ein Grundsatz: Dass wir uns immer einsetzen für unsere Umwelt, für unsere Welt, für unsere Gesellschaft. Wir können da etwas bewegen.