Heutzutage würden, anders als zu Luthers Zeiten, öffentliche Debatten nicht mehr anstößig empfunden. Und wenn heute jemand 95 Thesen in der Zeitung veröffentlichen würde, "dann würde man nach der dritten aufhören zu lesen", sagte der Rhetorikprofessor. Dennoch könne man auch heute im politischen Alltag "mit einer abweichenden These, oft auch Schuldzuweisungen" erfolgreich sein.
Besonders deutlich werde das in Talkshows und vor allem beim Kurznachrichtendienst: "Die 140 Zeichen bei Twitter verführen wieder zur thesenhaften Abkürzung." Das beobachtet der Rhetoriker zum Beispiel beim US-Präsidenten Donald Trump, der über Menschen, Parteien und das Klima ebenso twittere wie über Journalisten und Schauspieler: "Er will ja, dass sich die Leute aufregen."
"Thesen wirken, weil sie nicht erklären"
Als Martin Luther (1483-1546) vor 500 Jahren seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel veröffentlichte "hat er die erste große publizistische Debatte überhaupt angestoßen", sagte Knape. Vorher habe es öffentliche Debatten nicht gegeben. Zur Hilfe kam ihm dabei auch die wenige Jahrzehnte zuvor erfundene Druckerpresse, weil seine Thesen so günstig verbreitet werden konnten.
Ob Luther seine 95 Sätze tatsächlich an die Schlosskirche angeschlagen hat, ist historisch umstritten. Üblich gewesen wäre eine Veröffentlichung dieser Art im akademischen Bereich, sagte Knape, geschäftsführender Direktor am Seminar für allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen. Aber Luther habe sie an Regierende und Kirchenleute geschickt, sich öffentlich gegen die herrschende Meinung gestellt und so "die Debatte in die Welt gesetzt". Nicht umsonst hätten sich die Luther-Anhänger wenig später selbst Protestanten genannt, sagte der Autor des gerade veröffentlichten Buches "1521. Martin Luthers rhetorischer Moment oder die Einführung des Protests".
Entscheidend für den Beginn der anschließenden Debatte bis hin zum Reichstag in Worms 1521, wo Luther sich vor dem Kaiser verantworten musste, war für Knape die Thesen-Form: "Thesen wirken, weil sie nicht erklären, das setzt Fragen und Fantasien frei. Ein Traktat hätte diese Wirkung nicht gehabt."