Als Hannah Zanker die Tür aufdrückt, öffnet sich eine ganz andere Welt. Draußen lange Gänge mit vielen Türen und Neonlicht, die Luft abgestanden, der Kunststofffußboden ein 1960er-Jahre-Relikt. Hinter der Tür: Ruhe, gedämpftes Stehlampenlicht, ein gemütliches Sofa und davor ein Couchtisch aus Europaletten auf einem Sisal-Teppich. Es riecht noch neu, nach Möbelhaus. Das Zimmer strahlt eine Wohlfühl-Atmosphäre aus. Das soll es auch, erklärt Psychologin Zanker. Denn in dem Raum in der Schweinfurter Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge geht es um die seelische Gesundheit der Menschen.
Flüchtlinge müssen sich nach der Einreise in Deutschland registrieren und medizinisch untersuchen lassen. Dabei sollen vor allem körperliche Leiden entdeckt oder auch ansteckende Krankheiten wie Tuberkulose ausgeschlossen werden. Die psychische und soziale Komponente von Gesundheit, wie sie etwa die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrer Definition vorsieht, spielt dabei keine Rolle. In Schweinfurt ist das seit Februar 2017 anders. Dort gibt es ein deutschlandweit einmaliges Modellprojekt, gemeinsam getragen von der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" sowie dem katholischen Schweinfurter Krankenhaus St. Josef.
"Es geht um die Erkenntnis: Ich bin damit nicht alleine! Und es geht um Hilfe zur Selbsthilfe"
Nach dem medizinischen Check wird allen Neuankömmlingen auch ein psychosoziales Erstgespräch angeboten. Mit standardisierten Fragebögen sollen mögliche psychische oder soziale Probleme der Menschen aufgespürt werden. Das sei keine professionelle Anamnese - und erst recht keine Therapie, stellt Projektleiterin Henrike Zellmann von Ärzte ohne Grenzen klar: "Das ganze hat präventiven Charakter." Geführt werden die Gespräche von geschulten Laienberatern aus verschiedenen Kulturkreisen und Sprachkenntnissen: "Um möglichst viele Menschen aus Kriegsregionen zu erreichen", erläutert die klinische Psychologin.
Aktuell arbeiten eine Iranerin, ein Somalier und ein Syrer im Team der "Ambulanz für seelische Gesundheit" in der Einrichtung mit. Ihnen steht immer eine Psychologin zur Seite, um sie bei Bedarf zu einem der Gespräche dazuzuholen oder auch als Supervisorin für die eigenen Belange zu befragen. Ziel der Erstgespräche sei es, mögliche Problemfelder zu identifizieren - und dann kleine Gruppen zu bilden, erläutert Zanker. Die Gruppen erhalten drei Termine, bei denen gemeinsam über Probleme gesprochen wird: "Es geht um die Erkenntnis: Ich bin damit nicht alleine! Und es geht um Hilfe zur Selbsthilfe."
Abdifatah Mohamed ist einer der drei Laienberater. Der 27-Jährige lebt seit 2011 in Schweinfurt, in der somalischen Hauptstadt Mogadischu war er als Radiojournalist tätig, ehe er aus Angst vor Übergriffen flüchtete. Ungefähr die Hälfte aller Neuankömmlinge nehme das Angebot für das psychosoziale Erstgespräch an, in der Gruppenphase sind es noch mal etwas weniger. "Das ist wie bei uns", erklärt Psychologin Zanker: "Viele Menschen gehen wegen Bauchschmerzen zum Arzt, nicht aber wegen psychischer Probleme." Bis zu 75 Minuten dauern die Erstgespräche, oft leiden die Menschen an Schlafstörungen oder haben Alpträume.
"Manchmal helfen ganz praktische Tipps, damit aus solchen Problemen keine ernsthaften psychischen Krankheiten oder Störungen werden", sagt Zanker. Wenn jemand Schlafstörungen habe, helfe oft schon eine verbesserte "Schlafhygiene", also: ruhiges Umfeld, Dunkelheit, tagsüber Aktivitäten im Freien, Sport, kein Kaffee oder Tee nach 15 Uhr. "Und es ist ganz wichtig, den Menschen zu vermitteln: Es ist ganz normal, dass ihr gestresst seid und Probleme habt", sagt Kinderärztin Özlem Anvari, die in der Erstaufnahmeeinrichtung Sprechstunden abhält: "Eine Flucht hätte doch keiner von uns ohne Probleme oder Stress überstanden."
Die am Modellprojekt Beteiligten werben dafür, dieses Gesprächsangebot auch an anderen Standorten der Flüchtlingsunterbringung zu machen. Ärzte ohne Grenzen will sich den Angaben nach langsam aus der aktiven Beteiligung in Schweinfurt zurückziehen. Dann liegt die Verantwortung für das Projekt bei der Leitung des Krankenhauses St. Josef.