Aus den Lautsprecherwagen, die am Samstagmorgen kreuz und quer auf dem Hamburger Deichtorplatz stehen, dröhnen alte Demo-Klassiker: "Der Traum ist aus" von Ton, Steine Scherben ist zu hören, auch "Sieben Tage lang" von den Bots. Viele hundert farbige Wimpel knattern im Wind: Die gelb-rot-grünen Fahnen der Kurden, die roten der Linkspartei und anderer sozialistischer Organisationen, die orangefarbenen von Attac, auch das grün-orange Banner der "Republik Freies Wendland" ist in der Menge auszumachen. Die Umweltschutzorganisation Robin Wood hat an einem Gebäude ein Transparent mit der Aufschrift "Don't sell the climate" - End coal now" entrollt.
Ein linkes Bündnis aus mehr als 100 Organisationen hat unter dem Motto "Grenzenlose Solidarität statt G20" zum Protest gegen das Gipfeltreffen der Staatenlenker aufgerufen. Bis zum Mittag sind mehrere Zehntausend Menschen auf den Platz nahe des Hauptbahnhofs geströmt. Von 76.000 sprechen später die Veranstalter, 22.000 zählt die Polizei.
Gegen 13 Uhr setzt sich der bunte Zug in Bewegung, er zieht über die Willy-Brandt-Straße und die Ludwig-Erhard-Straße in den Stadtteil St. Pauli. Vorneweg marschieren die Kurden, immer wieder lassen sie lautstark die YPG hochleben, also die Milizen der syrischen Kurden. Samba-Gruppen laufen mit, auch ein Dudelsackspieler ist dabei.
An einem mobilen Stand verkauft jemand geballte Fäuste aus Pappe, die an einem Stecken in die Luft gereckt werden können. "Weniger arbeiten statt mehr Wachstum", fordert ein älterer Herr auf einem selbst gebastelten Schild. Von einer Brücke seilen sich zwei Frauen ab und spannen ein Transparent auf: "G20 - wir sind nicht alle! Es fehlen die Ertrunkenen", steht darauf.
An die bei der Flucht im Mittelmeer ums Leben gekommenen Menschen erinnert auch die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano. Bei der Kundgebung würdigt sie zunächst das Engagement der Demonstranten "gegen das Unrecht und die Unvernunft des Kapitals".
Abbau von Bürgerrechten in G20 angeprangert
"Ihr wollt nicht zusehen, wenn durch die Ausbeutung der Natur die Inseln Mikronesiens dem Klimawandel geopfert werden", ruft die 92-Jährige. "Ihr wollt nicht zusehen, dass mit Waffenhandel viel Geld verdient wird und im Mittelmeer Tausende Flüchtlinge ertrinken."
Scharf kritisiert Bejarano den Umgang der Politik mit den Demonstrationen gegen G20. Die Stadt Hamburg habe sich gegenüber den Protestierenden "unwürdig erwiesen" und stattdessen "die Konfrontation gesucht", sagt sie. Kundgebungen, Demos und selbst das Schlafen seien verboten worden. Die Botschaft sei gewesen: "Für euch ist kein Platz bei unserem Gipfel. Das ist eine Schande." Unter großem Beifall sagt Bejarano: "Es ist Zeit für einen Aufschrei." Es müsse "ein lauter Aufschrei" sein, der "bis in den letzten Winkel unseres Landes widerhallt".
Die Netz-Aktivistin und Bloggerin Katharina Nocun vom Hamburger Bündnis gegen Überwachung prangert "ein Übermaß an Überwachung" und einen Abbau von Bürgerrechten in den G20-Staaten an. Das Abhören durch die NSA und andere Geheimdienste, die Flugdatenspeicherung und die Videoüberwachung würden immer billiger, sagt Nocun: "Was früher noch hunderttausend Spitzel erforderte, passt heute in ein Rechenprogramm."
"Nicht demokratisch legitimierte Entscheidungen"
Am Ende kommt es dann doch noch zu Gewaltszenen: Auf der Reeperbahn geht die Polizei gegen einige Demonstranten vor, die schwarze Tücher vor den Mund gezogen haben. "Nach den Ereignissen der letzten Stunden fragen wir uns, warum der Versammlungsleiter vermummte Personen in seinem Aufzug duldet", twittern die Beamten.
Demo-Anmelder Jan van Aken, Bundestagsabgeordneter der Linken, spricht derweil schon bei der Abschlusskundgebung am Millerntorplatz. "Es geht uns darum, dass die Herrschaften, die dort hinten tagen, Entscheidungen treffen, die nicht demokratisch legitimiert sind", sagt er. "Die Demokratie steht hier." Am Rande des Platzes ziehen Rauchwolken auf: Die türkischen, kurdischen und arabischen Essensverkäufer haben ihre Grills angeworfen.