Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht angesichts einer Zunahme von Fake News, Hass und Hetze im Internet die Demokratie gefährdet. "Die Zersetzung der Vernunft ist der Anfang der Zersetzung der Demokratie", sagte er am Samstag auf dem evangelischen Kirchentag in Berlin. Mancherorts werde Wahrheit nicht nur absichtlich gefälscht, sondern scheine gar nicht mehr zu zählen. Schon eine Stunde im Netz genüge, "um einen nachdenklichen Leser zur schieren Verzweiflung zu bringen".
Zwar verschaffe das Internet Zugang zu einer nie gekannten Fülle von Informationen, sagte der Bundespräsident in einer Veranstaltung zum Thema "Ist die Vernunft noch zu retten?" Dieser "Dauerregen an Informationen" dürfe aber nicht mit Wissen und Weisheit verwechselt werden. Gefühlte Wahrheiten drohten dauerhaft an die Stelle von überprüfbaren Fakten zu treten. "Häme, Hass und Härten werden aber langfristig an unserer Gesellschaft nicht spurlos vorbeigehen", erklärte er. "Wir können auch in der digitalisierten Welt nicht auf Vernunft verzichten."
Das Abbilden und Verstärken von Stimmungen sei einerseits der Reiz der neuen Medien, andererseits aber "auch eine Gefährdung einer aufgeklärten demokratischen Kultur", sagte Steinmeier unter dem Beifall von rund 3.000 Zuhörern: "Ich finde, dieser Preis ist nicht nur hoch, sondern zu hoch." Ein "spielerischer Umgang mit alternativen Wahrheiten" sei "nicht nur ärgerlich oder ein flottes Label". Vielmehr stecke darin eine existenzielle Gefahr für das politische Gemeinwesen. Die Gesellschaft brauche heute dringender denn je seriöse Medien, für die nicht nur Klickzahlen und Quoten zählen.
Weltpolitisch scheine es zwar immer mehr Verbündete zu geben, sagte der Bundespräsident: "Aber warum so wenig Vernunft?" In Zusammenhang mit dem Präsidentschaftswahlkampf in den USA im vergangenen Jahr sei die Rede gewesen von einem "Virus des Absurden" und einem "Zeitalter des Postfaktischen". Doch auch in Deutschland sei eine "zunehmend aggressive Aversion gegen Fakten" und eine verstärkte "Suche nach Sündenböcken" festzustellen, sagte Steinmeier.
Zu den Gründen gehört nach seinen Worten, dass viele Menschen sich angesichts von Digitalisierung und Beschleunigung überfordert fühlen und einen Verlust von Kontrolle und Identität befürchten. Das Bedürfnis nach Identität müsse ernst genommen werden, denn es sei "nicht nur ein Nebenbei-Bedürfnis". Gefährlich werde es aber, wenn die Suche nach Identität nur noch gepaart sei mit Abgrenzung und Verklärung des Eigenen. "Denn dann verliert sie den Blick für die Wirklichkeit", betonte der Bundespräsident.
In einem anschließenden Podiumsgespräch ermutigte die Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums, die US-Philosophin Susan Neiman, europäische Politiker, im Umgang mit dem US-Präsidenten Donald Trump klare Kante zu zeigen und mit Geduld und Respekt für die europäischen Werte einzutreten. "Angst vor dem vermeintlich großen Bruder oder falsche Dankbarkeit" seien unangebracht, erklärte die frühere Yale-Professorin. Die Wahlen in Frankreich und den Niederlanden hätten zuletzt gezeigt, "dass die Vernunft sehr wohl siegen kann".
Die Diskussion wurde moderiert von dem Journalisten Hans Leyendecker, dem Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentags 2019 in Dortmund. Der langjährige Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" tritt als Kirchentagspräsident an die Stelle Steinmeiers, der nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten für das Ehrenamt nicht mehr zur Verfügung steht.